STURM ÜBER THEDRA. Michael Stuhr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Stuhr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847641407
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vor dem Palast oder der Person des Königs. Vielmehr ging die Anwendung dieses Gesetzes schon auf Aganez, den legendären Magier, zurück.

      Die ersten Bewohner Thedras, die Verbannten, hatten sich, um zu überleben, in natürlichen Höhlen eingerichtet, welche sie nach und nach zu richtigen Wohnstätten ausbauten. Schon nach wenigen Jahren war es so weit gekommen, dass einige Handwerker und Kaufleute ihre Werkstätten und Kontore tief im Felsen so gut wie gar nicht mehr verließen.

      Aganez hatte nun beobachtet, dass diese Menschen überdurchschnittlich oft an Krankheiten litten, die bei Leuten, die öfter mal im Freien waren, nur sehr selten auftraten. Er hatte nach einigen Versuchen festgestellt, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der besonderen Krankheitsanfälligkeit und dem Mangel an Tageslicht bestand.

      Besonders im Winter hatten die ersten Thedraner die Neigung gehabt, sich möglichst tief in ihre Höhlen zu vergraben. Und je besser sie sich zu schützen glaubten, umso schwächer wurden sie. Ständige Müdigkeit, Arbeits- und sonstige Unlust und Anfälligkeit für Infektionen aller Art waren ständige Gäste in der Höhlenstadt gewesen.

      Da Aganez damals schon ein sehr alter Magier gewesen war und schon lange aufgehört hatte auf die Vernunft der Menschen zu bauen, verlegte er sich nicht erst lange aufs Bitten und Beraten, sondern veranlasste den damaligen König, sofort die tägliche Pflichtwanderung um den Königsfelsen einzuführen.

      Der Erfolg hatte Aganez recht gegeben. Und wenn heute auch jeder Thedraner um den Sinn der kurzen Wanderung im Tageslicht wußte, so wurde das Murren davon doch nicht leiser. Ausgenommen von dieser Prozedur waren lediglich die Schwerkranken und die Neugeborenen, die in besonders witterungsgeschützten Höfen ihre tägliche Ration Tageslicht empfangen durften.

      Teri machten die täglichen Spaziergänge nichts aus. Meistens tollte sie mit den anderen Kindern übermütig herum und rutschte auf ihren strohgefütterten Holzschuhen die steilen Passagen des Weges hinab. Sie freute sich über das Knirschen des Schnees unter ihren Sohlen und versuchte, mit großen Schritten in den Spuren der Erwachsenen zu laufen. Schnee, wie herrlich! Man konnte darauf herumschlindern, Stücke davon aufheben und daran lecken, oder ihn zu leichten, sternchensprühenden Geschossen formen, die im Ziel in einer weißen Fontäne zerplatzten.

      Mindestens ebenso interessant fand Teri die Winterschule. Jedes Jahr im Winter wurden die Kinder des Formerfelsens drei Monate lang von einem Schulmeister intensiv unterrichtet. Teri mochte den Schulmeister. Geduldig lauschte sie seinen Ausführungen, stellte ihre Fragen und nahm sein Wissen in sich auf. Sie konnte nicht genug davon kriegen. Ungeduldig wurde sie nur, wenn ihre Mitschüler nicht ganz so schnell begriffen wie sie und der Stoff immer aufs Neue wiederholt werden mußte.

      Nach der Schule half Teri regelmäßig ihren Eltern in der Formerwerkstatt. Sie liebte die Arbeit mit dem kalten, glitschigen Ton nicht sonderlich, aber Teris Mutter hatte herausgefunden, dass sie ihrer Tochter die Arbeit versüßen konnte, wenn sie dabei Geschichten erzählte, die sie zu Hause von ihrem Vater gehört hatte.

      Aels Vater war Scharmann gewesen und jahrzehntelang als Windmeister auf einem Großschiff gefahren. Zu Teris Bedauern war das auch schon alles, was ihre Mutter über den Beruf des Großvaters zu berichten wußte. Ausnahmslos alle Scharleute wurden schon als Anwärter von den Magiern hypnotisch konditioniert, so dass es ihnen unmöglich war, Außenstehenden etwas über die Ausübung ihres Berufes zu erzählen. - Aber selbst das wußte Ael nicht. Sie konnte nur berichten, dass ihr Vater sehr verschlossen gewesen war, was Fragen nach seiner wirklichen Funktion an Bord anging. - Wovon er aber erzählt hatte, das war von den fremden Hafenstädten, den seltsamen Gebäuden und Pflanzen anderer Länder, den Menschen mit den absonderlichsten Hautfarben, den gefährlichsten Tieren der Welt und den abscheulichsten Riten der Eingeborenen in den fremden, fernen Ländern.

      Aels Erinnerungsvermögen war unerschöpflich, was die alten Erzählungen von Teris Großvater anging - und wenn die Erinnerung versagte - wer würde es einer Mutter nicht verzeihen, wenn sie auch ab und an die eigene Phantasie bemüht, um ihr siebenjähriges Töchterchen bei Laune zu halten?

      So erfuhr Teri von dem Volk, wo bei allen Menschen die Zunge oben am Gaumen angewachsen war. Das machte sich natürlich bei der Aussprache bemerkbar, hatte Aels Vater erklärt. Teri konnte von dieser Geschichte nicht genug kriegen und wollte jedes Mal sterben vor Lachen, wenn die Mutter vormachte, wie diese Leute sprachen.

      Auch lernte Teri, dass die Drachen, die auf den Inseln hinter den Nordinseln wohnen, ganz dick und erstaunlich leicht sind, so dass sie bei starkem Wind davongeweht werden können, wenn sie sich nicht ordentlich festhalten. Im übrigen spien diese Drachen das Feuer nicht in einem flammenden Strahl aus, wie viele Leute glauben, sondern schleuderten einen klebrigen Rotz aus ihrem Maul, der sich erst an der Luft entzündet.

      Aels Vater hatte selbst erlebt, wie einmal ein Drache von einem Felssturz erschreckt wurde und wütend einen großen Felsbrocken anspie. Der Block hatte einen halben Tag lang gebrannt und war geschmolzen wie ein Stück Fett im Topf. Als Beweis hatte er seiner Tochter damals einen verkohlten Zweig, von einem Baum der in der Nähe gestanden hatte, mitgebracht - und das war doch wohl ein unwiderlegbarer Beweis.

      Wenn Teris Mutter des Erzählens müde war, sang der Vater oftmals leise eines der vielen Formerlieder, während er seine Drehscheibe im Takt antrieb, und auch Teri trug zur Unterhaltung bei, indem sie ab und an ein Kinderliedchen trällerte oder sich haarsträubende Lügengeschichten ausdachte.

      So verging der dunkle Winter schnell, und kaum hatte die Sonne die ersten Grashälmchen aus den Felsspalten gelockt, begrüßte eine quietschvergnügte, mittlerweile achtjährige, Teri den jungen Frühling und machte die Stadt unsicher.

      Neben den üblichen Spielen, die die Kinder Thedras zu allen Zeiten gespielt hatten, hatte Teri in diesem Jahr eine besondere Leidenschaft entwickelt: Ganz besonders liebte sie es, sich im winzigen Vorhof des Schwalbenhafens aufzuhalten, wo fast ausschließlich die in gelbe Seide gekleideten Scharleute und die in dunkles Leinen gewandeten Schiffbauer verkehrten.

      Seit Athan ihr verheißen hatte, sie werde mit den Schiffen fliegen, hatte sich ihr junges Leben grundlegend verändert. Die Euphorie der ersten Tage war einer ständig wachsenden Sorge gewichen: Was, wenn Athan sein Versprechen vergaß? Was, wenn er auf See verletzt oder getötet würde - oder er an Altersschwäche starb? Was würde dann aus seinem Versprechen werden?

      So trieb sie eine tiefe, uneigennützige Sorge immer wieder in den Vorhof des Schwalbenhafens, und so oft der Obmann das Hafengelände betrat oder verließ, stand abseits seines Weges ein kleines, blondes Mädchen und suchte mit besorgten Blicken seinen Körper nach etwaigen Verfallserscheinungen ab.

      Lästig bei dieser so wichtigen Kontrollarbeit waren einzig die Wachen, die es einfach nicht einsehen wollten, dass Teri unbedingt stundenlang hier herumlungern mußte.

      Schließlich hatte Teri hoch oben in der Klippe, die den Schwalbenhafen von der Stadt trennte, eine ideale Beobachtungsplattform gefunden: Ein Spalt im Felsen, gerade breit genug, ihren schmalen Körper aufzunehmen, wurde nun zu ihrem Stammplatz. Dort saß sie dann in luftiger Höhe und schaute auf den Vorhof des Hafens hinab.

      Die Wachen hatten nicht viel gegen Teris Kletterpartien. Trotzdem wurde es von Mal zu Mal schwieriger, ihnen zu entwischen. Jedes Mal, wenn einer der Aufseher Teri erblickte, machten sich alle einen Spaß daraus, Jagd auf das Mädchen zu machen. Bislang war es Teri noch jedes Mal gelungen, den Wachen zu entwischen. - Sie kletterte sehr gut, und die Vorsprünge und Nischen im Fels, in denen ihre Finger und Zehen gerade noch Halt fanden, hätten die Männer niemals getragen.

      So sauste sie dann regelmäßig die senkrecht emporragende Felswand empor, um schnell aus der Reichweite der Aufseher zu kommen. Natürlich wußte sie, dass die Wachen sich mit der "Jagd" auf sie nur die Langeweile vertreiben wollten und dass die Männer ihr den Spottnamen "Eichhörnchen" gegeben hatten - sie schrien ihn ja laut genug. - Selbstverständlich wußte sie, dass alles nur ein Spiel war. - Aber erwischen ließ sie sich trotzdem nicht.

      Völlig außer Atem kam sie jedes Mal auf ihrem Beobachtungsposten an. Der kaum drei Männerhände breite Riß in der Klippe war in Jahrtausenden von Strömen von Regenwasser innen ganz glattgeschliffen worden. Nicht nur,