Aber was war das alles gegen die wirklich großen Feste?
Jedes Jahr, wenn die Schwalbenschiffe aus den Ländern der ganzen Welt in den Heimathafen zurückgekehrt waren, und die ersten Eisschollen vor dem Hafen auftauchten, wählten die Scharleute ihre neuen Mannschaften, gefolgt von den hohen Ständen der Schwalbenschiffbaumeister und der Kupferschmiede. Aber der Höhepunkt war und blieb das Fest der Scharleute, das Fest der fliegenden Schiffe.
Laut klangen die Schellen und Trommeln der Musikanten über den Platz; eine junge Frau stand vorne auf dem kleinen Podium und sang mit heller Stimme ein Tanzlied. Schneller und schneller drehten die Tänzer sich im Kreis. Noch lauter wurde die Musik. Die Sängerin feuerte die Tanzenden zu immer neuen Anstrengungen an.
Nun begann auch die Menge auf dem Platz zu wogen. Einige Paare begannen auch dort unten auf dem unebenen Platz zu tanzen. Händler hielten ihre Buden geöffnet und boten Speisen und Getränke an. "Heute alles auf Kosten der Schar!", schrien sie wieder und wieder. Kinder hielten Modelle fliegender Schiffe an langen Stangen über ihre Köpfe und bahnten sich johlend einen Weg durch die Menge, jedes auf einem anderen Kurs. Schmale seidene Bänder hingen von den Rümpfen herab und flatterten hinter den Modellen lebhaft hin und her. Jedes der Schiffchen war an den Seiten des Rumpfes mit einem Paar Möwenschwingen besetzt, die durch seidene Schnüre von den Kindern bewegt werden konnten.
Mit offenen Augen träumend sah Teri eines der Modelle auf sich zukommen. "Du wirst fliegen!", hatte der Obmann gesagt. Teri träumte sich auf das Deck des Modells. Matrose Teri - Windmeister Teri, oder nein, besser noch Kapitän Teri. Wie gut sich das anhörte: Kapitän Teri, Scharfrau von Thedra, unterwegs in das Land der weißen Küsten, zum Volk der Rauchtrinker, Seide gegen Gold zu tauschen.
"He, pass doch auf!" Das Schiffsmodell über Teri geriet plötzlich in harten Wind und drohte, von seiner Stange zu kippen. Der tatsächliche Kommandant, ein etwa achtjähriger, in feinste Stoffe gekleideter Junge, war gegen die träumende Teri gestoßen und dabei gestolpert. "Hau ab, Straßenköter!", fuhr der Knabe Teri an. "Den Weg frei für Kapitän Garsa und seine `Achat'!"
Hastig brachte die so jäh entthronte Teri ihre nackten Zehen vor den schweren Holzschuhen des Rüpels in Sicherheit. Verächtlich sah sie ihm nach, wie er sich rempelnd und stoßend einen Weg durch die Masse bahnte. Eines Tages würde sie wirklich Kapitän sein, eine der ersten Damen des Staates, gleichgestellt einer Fürstin! - Dann würde es kein Mensch mehr wagen, so mit ihr zu reden. Sie würde die unverschämte Brut in Ketten legen und auspeitschen lassen! Gierig sah sie ihrem Widersacher nach. - Schade, dass es noch nicht so weit war.
"Hier, Kleine, nimm ein Stück!" Ein Händler hielt Teri an einem langen Kupferspieß ein Stück gebratenen Fleisches entgegen. Aber Teri hatte keinen Hunger, sie wollte sich lieber noch ein wenig umschauen.
Mittlerweile war die Dämmerung herangekommen, und die ersten Fackeln wurden entzündet. Die Sängerin hatte zu einer getragenen Melodie ein zartes Liebeslied angestimmt. Obwohl sie nicht sonderlich laut sang, hing ihre helle Stimme wie eine alles umschließende Glocke über dem Platz. Nur ganz wenige, zumeist Angetrunkene, konnten sich dem Zauber dieses Klangs entziehen. Die Paare auf der Tanzfläche rückten näher zusammen, und auch auf dem Festplatz wurde eine Atmosphäre der Sehnsucht und der Zusammengehörigkeit spürbar, wie man sie nur ganz selten findet.
Dann war das Lied zu Ende, und ohne auch nur einen Moment innezuhalten, fielen Sängerin und Musikanten in den wilden Rhythmus eines wüsten Saufliedes, dessen zahlreiche, versteckte Anspielungen Teri nicht ganz verstand.
Teri ließ sich durch die Masse treiben, langsam wurde auch sie von der allgemeinen guten Laune angesteckt.
Einige Händler hatten ganze Hände voll seltener Gewürze und Samenkörner in kleinen Feuerbecken entzündet. Gierig sog Teri das Aroma ein, das sich über den ganzen Platz ausbreitete.
Weiter sank die Dunkelheit herab. Der kleine Ausschnitt des Himmels zwischen den hohen Felsen der Stadt war schon fast schwarz. Wie glosende Feuerbälle hingen die Fackeln in ihren Halterungen. Überdeutlich hörte Teri das Knacken des brennenden Holzes durch all den Lärm hindurch. Warm schimmerte das Licht der Öllampen aus den Tavernen rund um den Platz. Heiter und unbeschwert begann Teri sich im Takt der Musik zu wiegen. Plötzlich fühlte sie sich bei der Hand genommen und im Kreis herumgedreht. Ein etwa zehnjähriger Junge hatte sie einfach ergriffen und tanzte in wildem Wirbel mit ihr über den Platz. Lächelnd legte Teri den Kopf in den Nacken und ließ die Haare fliegen; der Tanz gefiel ihr gut.
Plötzlich ließ der Junge ihre Hände los, aber schon wurde sie vom nächsten Tänzer aufgefangen und wie von einem starken Wind weiter über den Platz geweht. Weiter ging der Tanz. Die Musik war nur noch ein aufpeitschender, fordernder Rhythmus, die fliegenden Schiffe über Teris Kopf wurden zu einer auf bunten Seidenbändern dahinrauschenden Flotte. Teri jauchzte laut auf. Immer schneller wechselten ihre Tanzpartner sich ab. Knaben und Mädchen, Männer und Frauen wirbelten ihren Körper in immer wilderen Kreisen herum, bis sie sich schließlich, völlig außer Atem, mit wundgetanzten Fußsohlen, in den Winkel zwischen der Musikantentribüne und einer Taverne retten konnte.
Angestrengt keuchend, vor Erschöpfung zitternd, kauerte sie sich in dem Mauerwinkel zusammen. Gerne hätte sie noch weiter getanzt, aber ihre Lungen, und speziell ihre Füße, machten einfach nicht mehr mit.
Plötzlich brach die Musik mitten im Lied ab. Hoch über der Stadt lag ein Leuchten in der Luft. "Aganez' Feuer!", ging ein Raunen durch die Menge. "Aganez' Feuer!"
Auch Teri sah hoch, zum Gipfel der Königsklippe hinüber. Selbstverständlich kannte sie die Geschichte von Aganez' Feuer, mit dem der greise Urvater der thedranischen Magier einst in stürmischer Nacht die Flotte der Fliegenden Schiffe vor dem sicheren Untergang gerettet hatte. Die Vorführung des Magischen Feuers war in jedem Jahr Höhepunkt und Schlußakkord des Festes.
Vergessen waren Erschöpfung und wunde Füße. Aufgeregt sah Teri zu, wie das magische Leuchten von Minute zu Minute stärker wurde. Die Musik hatte wieder eingesetzt. Leise trug die Sängerin das Lied der Sturmflottenschar vor, besang die weiten Reisen, die fremden Häfen, die sternklaren Nächte auf See. Gerade war sie bei der letzten Strophe angekommen, die die Heimkehr mit reicher Fracht besang, als das Licht vom Gipfel der Zinne schon den ganzen Himmel ausfüllte und zu pulsieren begann.
Taghell war es nun in den Schluchten von Thedra. Ein ehrfürchtiges Raunen ging durch die Menge. Immer schneller pulsierte das Licht, bis kaum noch ein Wechsel wahrzunehmen war. Einzelne Hochrufe wurden laut, andere Menschen auf dem Platz fielen ein. Die Sängerin beendete ihr Lied. Die Luft war von einem Schwirren durchzogen, als flögen Millionen von Schwalben über die Stadt hinweg - und dann explodierte der Himmel über Thedra in lautlosem, vielfarbigem, kaltem Feuer.
Der Winter des Jahres dreiundzwanzig der Herrschaft Reos, König von Thedra und Estador, verlief für Teri in gewohnter Gleichförmigkeit.
Wenn in den Monaten um die Wintersonnenwende die eiskalten Nordstürme durch die Straßen von Thedra heulten, wurden sämtliche Öffnungen der einzelnen Wohnfelsen mit schweren Holztoren hermetisch verschlossen. Lediglich schmale Türen führten dann noch ins Freie und nur kleine Abzugslöcher in den schweren Torbalken sorgten für den nötigen Luftaustausch.
In dieser Zeit wurde ganz besonders auf die Einhaltung eines uralten Gesetzes geachtet, das besagte, jeder Bürger habe jeden Tag den Königsfelsen einmal komplett zu umrunden und dabei Hände und Gesicht ungeschüzt dem Tageslicht darzubieten.
Das war nun aber ein Fußweg von gut eintausend Mannslängen und mancher Bürger fluchte laut über die lästige Pflicht, sich täglich klamme Finger und eine kalte Nase holen zu müssen. Aber die Wachen waren unerbittlich. So zog denn täglich eine unübersehbare, schimpfende, zähneklappernde, sich schneuzende Prozession ehrenwerter Thedraner um den Amtssitz Reos, bewacht von ebenso jämmerlich frierenden Aufsehern, die strengstens darauf zu achten hatten, dass nicht etwa