STURM ÜBER THEDRA. Michael Stuhr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Stuhr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847641407
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gewesen, die zwischen Herren und Sklaven zu unterscheiden verstand. Nie hätte sie zugelassen, dass ihr Mann oder ihr Sohn selbst die Karren gezogen hätten. Nie hätte sie geduldet, dass der Vater das Haus für die Dauer der Reise in der Obhut der Sklaven ließ. Nie!

      Blind vor Wut legte Llauk sich ins Zeug. Sein Zorn gab ihm ungeahnte Kräfte. Leicht lief der Karren plötzlich, ganz leicht. - Zu leicht!

      "Vorsicht! Zieh doch nicht so!"

      Aus seinen Tagträumen erwachend, sah Llauk, wie Farrauq neben ihm sich verzweifelt gegen den Karren stemmte. Sie waren auf eine abschüssige Strecke geraten. Der Wagen war schnell geworden und kam direkt auf Llauk zu. Der versuchte zur Seite zu springen und riß dabei natürlich stark an der Zugleine. Der Karren drehte sich unkontrollierbar zur Seite.

      Farrauq stemmte sich mit aller Kraft gegen das schwere Gefährt, aber Llauk machte, mit seinem ängstlichen Gehopse und Gereiße an dem Seil, all seine Bemühungen, den Karren zu stoppen, zunichte. Plötzlich streifte Farrauq mit zwei geschmeidigen Bewegungen das Zuggeschirr von seinen Schultern und warf sich aus der Fahrspur.

      Jetzt war Llauk ganz allein vor dem taumelnden, immer schneller werdenden Gefährt. In panischem Entsetzen drehte Llauk sich um und fing an, den Berg hinabzurennen. Dass er dabei wieder das Zugseil unter Spannung setzte, fiel ihm gar nicht auf. Drohend mahlten hinter ihm die Holzräder über den Schotter. Immer schneller wurde der Karren. Llauk rannte um sein Leben.

      Vor Angst laut brüllend raste Llauk in vollem Geschirr den Hügel hinunter, vor dem Karren her, der ihm in wildem Zickzack folgte. - Vorbei an Bäumen und Sträuchern, über Steine und Sand, die Böschung hinauf und hinunter, vorbei am Karren seines Vaters, bis er schließlich weit hinter dem Fuß der Senke zum Stehen kam.

      Immer noch völlig außer Atem kniete Llauk vor dem Karren im Sand, als sein Vater und Tos mit ihrem Wagen vorbeikamen. Farrauq, der die ganze Zeit hinten am Karren gehangen und gebremst hatte, legte sich schon wieder sein Zuggeschirr um.

      Der Vater würdigte Llauk nicht eines Blickes. "Gut gemacht", brummte er nur im Vorübergehen, und dass er damit nicht gerade seinen Sohn meinte, war klar.

      Thedra! Was für eine Stadt! Llauk war begeistert. Natürlich hatte er schon von den Eigentümlichkeiten der `Felsenklippenstadt' wie man Thedra in Idur gerne nannte, gehört. Aber was für ein Unterschied war es, von diesem Wunder der Natur und des menschlichen Fleißes nur zu hören, oder es auch mit eigenen Augen zu sehen.

      Nicht einmal, wohl an die zwanzigmal hatte Llauk Thedra schon betreten, bis die Karren auf dem Platz vor der Stadt endlich entladen waren und die Sklaven damit heimkehren konnten. Zwanzigmal war er, mit Stoffballen bepackt, den schmalen Passweg entlang gestolpert, der an der Stadtgrenze nur aus einem kaum zwei Ellen breiten Felssims an einer überhängenden Felswand bestand. An die zwanzigmal hatte er erlebt, wie das Panorama der großartigsten aller Städte, wie er fand, sich seinen Augen erschloß.

      Tatsächlich war das Bild, das Thedra dem Wanderer, der über den Passweg kam, bot, beeindruckend. Dutzende hoch aufragender Klippen breiteten sich in unübersehbarem Durcheinander vor den Füßen des Ankömmlings aus.

      Durchzogen war dieses Gewirr gigantischer Felsbrocken von kurzen Straßen, engen Gassen und Hunderten von Treppen und Treppchen, auf denen Menschen in bunter Kleidung bald in diese, bald in jene Richtung eilten.

      Immer wieder war Llauk stehengeblieben und hatte in die Stadt hinuntergespäht. Immer wieder tauchten an allen möglichen Stellen völlig unvermutet Menschen aus den Felsen auf. Llauk staunte, wie groß diese Stadt war. Hunderte von Menschen mußten hier wohnen.

      Doch was war das alles gegen den Hafen. Llauk war noch niemals aus Idur herausgekommen und hatte noch nicht einmal ein Flußschiff gesehen. Da lagen sie nun zu seinen Füßen, die Ein-, Zwei- und Dreimaster, die mit der Ware seines Vaters in alle Welt hinausfahren würden.

      Llauk konnte es gar nicht erwarten, zum Hafen hinunterzugehen und sich die Schiffe genauer anzusehen. Wenn doch nur erst diese Schlepperei, diese Sklavenarbeit, zu Ende wäre. Schon hatte die alte Verdrießlichkeit ihn wieder eingeholt. Lustlos und mürrisch trug er Tuchballen für Tuchballen zu dem Depot an der Stadtgrenze, das sein Vater ihm gezeigt hatte.

      Großzügig hatte Llauk sich angeboten, dort zu bleiben und darauf zu achten, dass nichts gestohlen werde, aber sein Vater war nicht darauf eingegangen. - Dann war der Alte eben selbst schuld, wenn die Diebe seine Stoffe holten. Als Vater und Sohn dann allerdings mit den letzten Ballen keuchend und schnaufend in die Höhle kamen, die als Lagerhaus diente, fehlte zu Llauks Bedauern nicht eine Elle Tuch. Im Gegenteil: Es hatte sich sogar ein mit einer Pike bewaffneter Wächter, der den Stoffmacher freundlich grüßte, auf dem Warenstapel niedergelassen.

      Nachdem ein kleines Trinkgeld geflossen war, und die beiden Männer sich kurz über Belanglosigkeiten unterhalten hatten, brachen Vater und Sohn auf, um sich bei den thedranischen Händlern vorzustellen. Llauk wunderte sich laut darüber, dass der Mann von seinem Vater keinen richtigen Lohn für seinen Wachdienst gefordert hatte.

      "Der König bezahlt diese Männer." Llauks Vater schritt kräftig aus. "Sie achten darauf, dass alles seine Ordnung hat. Es gibt hier sehr viele von ihnen."

      Wächter? - Vom König bezahlt? Llauk begann, sich für einen neuen Beruf zu interessieren: Königlich bezahlter Wächter, der mit einem Spieß herumläuft und auf Stoffballen herumsitzt. Ein Mann, zu dem alle freundlich waren - freundlich sein mußten - denn er hatte ja einen Spieß.

      "Es gibt ein Sprichwort in Thedra", erklärte der Vater auf dem Weg in die Stadt weiter, "`Du kannst nicht husten, ohne dass die Wache dich hört', lautet es. Manchmal habe ich das Gefühl, dass etwas Wahres daran ist. - Allerdings tragen die Felsgänge die Geräusche auch sehr weit."

      Das war doch etwas anderes, als das Leben in der Werkstatt auf der Hochebene von Idur, wo die Sklaven einen ermorden konnten, ohne dass der nächste Nachbar es gehört hätte. Thedra gefiel Llauk.

      Die Gespräche, die der Vater mit den Händlern führte, interessierten Llauk nicht sonderlich. Trotzdem war er ganz aufgeregt. Die hohen Felsen um ihn herum, die engen Straßenschluchten, die langen, dunklen Gänge in den Felsen selbst, in denen die Holzsohlen ihrer Schuhe so schön klapperten, das war alles neu für ihn.

      Erstaunt schaute er sich immer wieder um. Männer und Frauen jeden Alters begegneten ihnen und huschten nahezu lautlos vorbei. Llauk entdeckte, dass die Sohlen ihrer Holzschuhe allesamt mit Leder beschlagen waren. Solche Schuhe würde Llauk auch bekommen, wenn er erst einmal in Thedra wohnte, das stand fest.

      Und erst die Kontore der Kaufleute! Nie hätte Llauk gedacht, dass es so viele Stoffballen auf der Welt gab. Deckenhoch stapelten sich die feinsten Stoffe in den leuchtendsten Farben in den Kavernen der Händler. Oftmals war kaum noch genug Platz für den flachen Tisch vorhanden, an dem die Kaufleute sich bei den Verhandlungen niederhockten, um Wein zu trinken und sich allerlei unwichtige Dinge zu erzählen, bevor sie zur Sache kamen.

      Immer wieder mußte Llauk zu den Regalen hinüberschauen, in denen so unermeßliche Werte gestapelt waren. Nicht nur einheimische Ware war hier eingelagert; auch Tuchsorten, die Llauk noch nie gesehen hatte, warteten hier, tief im Händlerfelsen von Thedra, auf ihre Käufer. Auch gab es Stoffe in Webarten, von denen Llauk sich nicht vorstellen konnte, wie sie gemacht worden waren.

      Besonders hatte es ihm eine Rolle feinen, weißen Gewebes angetan, das im Schein der Öllampe nahezu metallisch schimmerte. Es war ein offener Ballen, und das heraushängende Ende des Stoffs bewegte sich leicht bei jedem Lufthauch. Nie hatte Llauk ein feineres Gespinst gesehen.

      "Seide!", erklärte der Händler, der Llauks Blick bemerkt hatte. "Die Elle zu vier Bronzestücken."

      Llauk konnte es nicht fassen. Vier Bronzestücke, das bekam sein Vater für einen ganzen Ballen feinsten Tuchs, und das waren hundert Ellen.

      "Welch feines Garn das ist", stellte Llauk bewundernd fest.

      "Ein kleiner Wurm, sagt man, macht das Garn für diesen Stoff."

      Llauk mußte lachen. Der Händler wollte ihn wohl für dumm verkaufen. - Ein Wurm! Plötzlich blieb