STURM ÜBER THEDRA. Michael Stuhr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Stuhr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847641407
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es machen. Ganz bestimmt!

      Plötzlich verstummten die Fanfaren. Erwartungsvolle Stille lag über dem Platz. An die dreitausend Menschen warteten darauf zu erfahren, welchen Familien in diesem Jahr die Ehre zuteil wurde, ein Mitglied der Sturmflottenschar hervorgebracht zu haben.

      "Der Obmann der Kapitäne der Schwalbenschiffe!", rief der Erste Verkünder überflüssigerweise über die Köpfe der Menge hinweg. Jeder kannte Athan, den dienstältesten Kapitän der Flotte der fliegenden Schiffe.

      Der Mann neben Teri setzte sich in Bewegung und stieg die Stufen zum Podest hinauf. Teri konnte es kaum fassen, der Obmann hatte direkt neben ihr gestanden, sie hatte ihm sogar ins Gesicht gesehen, und sie hatte ihn in ihrer Aufregung nicht erkannt.

      Athan ließ sich Zeit mit seinem Auftritt. Klein und drahtig wie alle Scharleute, wirkte er in seinem Anzug aus gelber, geölter Seide wie eine Quelle reiner Energie. Trotz seines Alters, Teri schätzte ihn auf mindestens dreißig Jahre, bewegte er sich geschmeidig auf die Mitte des Podiums zu.

      Ruhe gebietend hob er die Hand, als einzelne Hochrufe laut wurden. Aus seiner Tasche, die um seine Schultern hing, nahm er eine flache Holzschachtel, von der er mit geübten Handgriffen den Deckel entfernte. Zum Vorschein kam ein Rahmen aus Leisten, der fast zu ganzer Höhe mit gelbem Ton ausgefüllt war.

      Den Deckel der Schachtel legte Athan nun unter das Bodenbrett der Tafel und hielt diese mit beiden Händen über den Kopf. "Die Versammlung der Kapitäne hat gewählt!", gab er bekannt, "Diese Tafel trägt die Namen der Matrosen, die wir in diesem Jahr in Dienst nehmen werden!"

      Teri versuchte angestrengt, einen der Namen zu entziffern, oder wenigstens die Anzahl der Kandidaten festzustellen, konnte aber wegen der Entfernung nichts erkennen.

      "Ich werde die Namen nun verlesen", fuhr Athan fort und nahm die Tafel wieder herunter. "Erwählt ist Rean, Tochter der Kaufleute Deril und Ewron!" Athan ließ die Tafel sinken, während Rean mit hochrotem Gesicht nach vorn gestolpert kam und sich neben ihn stellte.

      "Erwählt ist Sigo, Sohn der Former Ohbit und Aslan!" Wieder kam ein linkisches Geschöpf aus der Gruppe der Wartenden und stellte sich, verlegen grinsend, neben Athan.

      Teri sah dem würdelosen Schauspiel verächtlich zu. Die armen Kapitäne! - Was hatten die sich da bloß ausgesucht?

      Weiter verlas der Obmann die Namen der Erwählten. Mit jedem neuen Namen sank Teris Hoffnung tiefer. Immer größer wurde die Schar stolzer und verlegener Halbwüchsiger, die sich neben Athan aufstellten. Auch Aeta war dabei – natürlich - und Dacol, der Sohn eines Hirten, der mädchenhafter wirkte, als manche der jungen Frauen auf der Tribüne.

      Schließlich ließ der Obmann die Tafel endgültig sinken. sechzehn Auserwählte standen neben ihm.

      Athan trat zwei Schritte vor, wandte sich um und richtete das Wort an sie: "Junge Scharleute", sprach er sie an, "ihr seid von der Kapitänsversammlung der Schwalbenschiffe in den Mannschaftsstand gewählt worden. Wer von euch Zweifel hat, den harten Anforderungen gewachsen zu sein, der trete nun vor, und ich werde seinen Namen von dieser Tafel löschen!"

      Keiner der jungen Scharleute regte sich auch nur um einen Fingerbreit.

      "So sprecht mir denn nach", fuhr der Obmann in dem traditionell vorgegebenen Text fort und begann mit getragener Stimme den Eid der Scharleute zu sprechen, wobei er nach jeweils wenigen Worte eine Pause einlegte, in der die Erwählten den Text im Chor wiederholten: "Wir sind der Sturmflottenschar auf ewig ergeben. Wir werden ihre Geheimnisse hüten und für unser Schiff eintreten mit der Kraft unseres Geistes, des Körpers und unseres Lebens!"

      Eine heiße Welle der Sehnsucht riß Teri mit sich fort. Halblaut hatte sie den Text des Eides mitgesprochen. Einen Moment lang war sie versucht, einfach auf die Bühne zu klettern und sich in die Gruppe der Erwählten einzureihen - aber das war natürlich dummes Zeug.

      "Ein jeder von euch ist nun für alle Zeiten Mitglied der Sturmflottenschar", erhob Athan nun wieder die Stimme, als die nachgesprochene Eidesformel verklungen war. "Nichts als der Tod wird euch von diesem Recht und dieser Pflicht entbinden. Geht nun in den Schwalbenhafen und lernt euer Handwerk gut. Im nächsten Frühjahr werdet ihr mit den Schiffen fliegen!"

      Wie auf ein geheimes Kommando hoben die Verkünder nun ihre Fanfaren, um das Schweigegebot aufzuheben, aber noch vor dem ersten Ton löste sich die Anspannung der Menge in tosendem Jubel. Jeder versuchte, den Eltern eines neuen Scharmitglieds die Hand zu reichen, nur das kleine Häuflein der abgelehnten Bewerber stahl sich beschämt von der Bühne.

      Teris Blick hing wie gebannt an der Gestalt Athans, der nun zu jedem einzelnen der jungen Leute trat, um sie zu ihrer Wahl zu beglückwünschen. Dann händigte er die frische Tontafel dem Obmann der Brenner aus, der sie mit sich nahm, um sie im Feuer zu härten.

      Plötzlich drehte der Obmann sich um und schaute Teri voll in die Augen. Mit zwei schnellen Schritten war er am Rand der Tribüne und beugte sich zu Teri hinab, die erschreckt einen halben Schritt zurückwich, mehr Raum ließ ihr die Menge in ihrem Rücken nicht.

      "Welcher Kerl soll mit den Schneckenschiffen fahren?", fragte Athan freundlich.

      Schlagartig wurde es Teri klar, dass er ihre halblaut ausgesprochene Bemerkung von vorhin trotz der Fanfaren sehr wohl gehört hatte. "Der, der dicke Raag", brachte sie zaghaft hervor. Tatsächlich war Raag auch in seinem dritten Jahr von keinem Kapitän gewählt worden. Er würde nie zur Schar gehören, Teri hatte es gewußt.

      "So, der dicke Raag also", stellte der Obmann fest. "Ja, du hast Recht. Raag wird auf einem Schneckenschiff anheuern müssen, wenn er zur See fahren will." Nachdenklich nickte der Mann zu seinen Worten. "Und du?", wollte er von Teri wissen. "Ich habe Dich beobachtet. - Du willst Scharfrau werden?"

      Auf einmal fiel alle Befangenheit von Teri ab. "Ja!" Trotzig schaute sie dem hoch über sie aufragenden Mann auf der Bühne in das Gesicht. "Ja, ich will Scharfrau werden! Und nicht nur einfache Scharfrau. Kapitän will ich werden! Kapitän des Flaggschiffs der Königlichen Flotte. Kapitän der `Diamant'!"

      Athan lachte laut auf. "So, Kapitän der `Diamant' willst du sein! Nun, das ist zur Zeit zwar mein Schiff, aber wenn Du so weit bist, können wir uns ja über meine Ablösung unterhalten."

      Teri spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. Sie hatte das Gefühl, etwas unglaublich Dummes gesagt zu haben.

      "Sag mir deinen Namen", forderte Athan.

      Die Stimme drang wie aus weiter Ferne an Teris Ohr. Leise gab sie Antwort. Sie schämte sich entsetzlich für ihre vorlaute Bemerkung.

      "Teri also!" Der Obmann richtete sich zu voller Größe auf und sprach nun lauter: "Deinen Namen werde ich mir merken, Teri." Fest schaute er das Mädchen an. "Erwarte nur die Zeit. - Du wirst mit den Schiffen fliegen!"

      Teri war es, als versänke die Welt um sie herum. Unsicher tastete sie nach der Brüstung vor sich. Sie würde mit den Schiffen fliegen! Der Obmann hatte es gesagt! Der Obmann hatte es versprochen! Ein ungeheures Glücksgefühl durchströmte ihren Körper. Sie hörte kaum noch, wie die Musikanten auf einer kleinen Nebenbühne begannen, eine schwungvolle, fröhliche Melodie zu spielen. Erst als die Paare anfingen, die Bühne zu stürmen und einen wirbelnden Tanz begannen, merkte sie, dass Athan schon lange gegangen war. - Sie würde mit den Schiffen fliegen. - Athan hatte es gesagt. - Das war mehr als ein Versprechen - das war eine Verheißung!

      Teri schaute sich um. Die ernste, erwartungsvolle Stimmung der Menge entlud sich nun in nahezu hektischer Heiterkeit.

      Eigentlich war es nichts Besonderes, dass die Zünfte im Schwalbenhafen ihren Nachwuchs bestimmten. Während der Herbstmonate gab es an jedem fünften Tag ein ähnliches Spektakel. Jeder Thedraner, der das zwölfte Lebensjahr vollendet hatte, konnte sich um die Aufnahme in einen Berufsstand eigener Wahl bewerben. Zu diesem Zweck ging er zu dem entsprechenden Obmann und trug ihm seinen Wunsch vor.

      Die Auswahl ging nach immer gleichen Kriterien vonstatten: Die Meister der Zunft wählten aus dem Aufgebot in einer Vorentscheidung ihre Lehrlinge aus. Die Namen der Gewählten wurden dann, im Beisein aller, öffentlich verlesen. Die abgewiesenen Bewerber