Llauk lag noch lange wach in jener Nacht. Bewunderung und Neid beherrschten seine Gedanken. Was für ein herrliches Leben hatte dieser Mann. Das war nun wirklich ein König, wie Llauk sich ihn vorstellte. Ein König des Goldes und der Fingerzeige, der Warenstapel und der Münzen, des Geistes und des Fleisches. Alle würden ihm gehorchen, denn er hatte das, was andere wollten im Übermaß. Er konnte gewähren oder verweigern - Schicksale mit einer winzigen Bewegung seines Kopfes bestimmen. Er konnte kleinere Kaufleute reich oder arm machen, ganz nach Belieben. - Und bestimmt hatte er auch Macht über die Körper der Frauen.
Llauk spürte eine diffuse Begierde in sich aufsteigen. Das war doch ein anderes Leben, als in einer jämmerlichen Werkstatt widerwillige Sklaven anzutreiben.
In dieser Nacht wurde eine Idee geboren: Llauk würde Kaufmann werden. Wenn er erst erwachsen war, würde er seine Ware nicht in Thedra feilbieten, sondern damit in ferne Länder reisen. Wenn er dann reich, unendlich reich, zurückkam, würde er den anderen Stoffmachern ihre Erzeugnisse abkaufen und wieder auf die Reise gehen. Das würde er machen, bis er wirklich so reich war, wie der fremde Kaufmann - und noch viel reicher!
Kein Ballen Stoff würde mehr ohne seine Markierung aus der Provinz Idur kommen. Kein Händler würde es wagen, Llauks Geschäfte zu stören. Dann hätte sich seine Sehnsucht endlich erfüllt. Dann würde er ein König sein. - Der König der Stoffmacher!
KAPITEL 3 - KIND DER ZUNFT
Realitäten verändern sich ständig; manche Träume nie.
Als Teri im Schneckenhafen ankam, war es fast schon zu spät.
Am frühen Nachmittag hatte sie sich auf ihr Bett gelegt, um ein wenig die Vorfreude auf das Fest zu genießen. Darüber war sie einfach eingeschlafen. Da ihre Eltern noch einen Besuch machen wollten, bevor das Fest begann und Teri keine Geschwister hatte, hatte auch niemand sie wecken können.
Voller Entsetzen hatte sie beim Erwachen festgestellt, dass es um sie herum überall totenstill war. Der ganze Wohnfelsen schien von allen Menschen verlassen. In fliegender Hast, ohne sich auch nur die Schuhe überzustreifen, war sie auf den düsteren Gang hinausgestürzt. In vollem Lauf war sie die steilen Treppen im Felsinneren hinabgerannt. Wäre jemand ihr entgegengekommen, hätte es eine Katastrophe gegeben.
Geblendet vom grellen Tageslicht war Teri durch die engen, gewundenen Straßenschluchten gerannt, bis ihr fast der Atem verging. Unsäglich war ihre Erleichterung gewesen, als sie am Schneckenhafen durch das große, turmbewehrte Schutztor kam und feststellte, dass sie nichts Wesentliches versäumt hatte.
Fast zweitausend Stadtbewohner drängten sich auf dem einzigen Versammlungsplatz der Stadt. Schulter an Schulter standen sie dort und schauten erwartungsvoll auf das steinerne Podest am Ende des Platzes. Hell klangen die kleinen Marschtrommeln der Verkünder über die Köpfe der Menge hinweg.
Teri beeilte sich. Gleich würden die Fanfaren erschallen, dann mußte sie in der ersten Reihe sein!
In letzter Sekunde verzögerte sie ihren Lauf und drängte sich mit verzweifelter Kraft zwischen den eng zusammenstehenden Menschen hindurch. Langsam, viel zu langsam, kam sie vorwärts. Sie kam sich vor, wie eine Fliege im Honigtopf - irgendwann würden ihre Kräfte erlahmen und die zähe Masse um sie herum würde sie zum Stillstand bringen. Mit der ganzen Kraft ihres siebenjährigen Körpers schob sie sich zwischen den Leibern der Erwachsenen hindurch.
Erste Beschimpfungen wurden laut. Knapp nur entging sie einem halbherzig geführten Schlag. So ging es nicht weiter! Kurz entschlossen ließ Teri sich zwischen zwei fetten, bleichen Kaufleuten zu Boden gleiten. Hier hatte sie viel mehr Bewegungsfreiheit. - Dass sie auch nicht sofort auf diese Idee gekommen war! Auf allen Vieren raste sie förmlich zwischen den Beinen der Herumstehenden hindurch.
Einige Männer fluchten laut, andere waren amüsiert, einige Frauen schrien erschreckt auf, aber alle nahmen doch die Füße brav aus dem Weg, wenn Teri gegen ihre Waden prallte.
Nach kurzer Zeit sah Teri die letzte Reihe Beine vor sich, direkt dahinter die Mauer des Podests. Eilig arbeitete sie sich dorthin durch und richtete sich vorsichtig auf, um die Umstehenden nicht zu verärgern.
Nie sah man ein freundlicheres Kind aus einer Menschenmenge auftauchen. - Niemand wäre je auf den Gedanken gekommen, dass dieses zarte, blonde, lächelnde Geschöpf eben noch verbissen um jede Elle Raum gekämpft, dabei in Waden gekniffen und mit der blanken Faust auf nackte Zehen geschlagen hatte. So rückten die Leute bereitwillig noch ein wenig mehr aneinander und Teri konnte sich direkt vor dem Podest vollends aufrichten. Freundlich strahlte sie zu ihren Gönnern, einem kleinen, stämmigen Scharmann und seiner fein herausgeputzten Frau, hinauf und wandte sich dann dem Geschehen vor ihr zu.
Teri war an die äußerste rechte Seite der Tribüne geraten. Besser hätte sie es gar nicht treffen können. So hatte sie die gesamten Vorgänge mit einem Blick unter Kontrolle und lief nicht Gefahr, etwas das außerhalb ihres Blickfeldes geschah zu versäumen.
Direkt vor Teri, kaum eine Elle entfernt, stand einer der Verkünder. Die Marschtrommel, von dem Mann in rasendem Takt geschlagen, hing genau über ihrem Kopf.
Die Verkünder waren die einzigen Bewohner Thedras, die ungestraft Lärm machen durften, ja sogar mußten. Alle Neuigkeiten von Belang wurden durch diese Männer und Frauen täglich zu festgelegten Zeiten verkündet. Darüber hinaus brachten sie den Bewohnern der Stadt die Verordnungen der Beamtenschaft zu Ohren, und auch die Kapitäne der Schneckenschiffe bedienten sich ihrer, um Mannschaften für ihre Frachter anzuwerben.
Mit einem furiosen Wirbel der Trommelstöcke beendete der Mann vor Teri sein Spiel und griff zu der kupfernen Fanfare, die an einem breiten Seidenband von seiner Schulter hing. Teri hielt die Luft an und schaute schnell zu den etwa dreißig Halbwüchsigen hin, die mit erwartungsvollen Gesichtern auf dem hinteren Teil der Tribüne standen. Wer von ihnen würde wohl zu den Auserwählten gehören?
Wilder Neid erfaßte Teri unvermittelt. Heute wurden die neuen Scharleute gewählt. - Die Scharleute, die auf den fliegenden Schiffen fahren und Waffen tragen durften. - Die Scharleute, die alle nur denkbaren Privilegien genießen und in die entferntesten Länder reisen würden. Unwillkürlich schloß Teri ihre Hände zu Fäusten. Wenn sie nur alt genug gewesen wäre, dann würde sie jetzt dort oben stehen - und ganz sicher würde sie ausgewählt werden.
Gleichzeitig hoben alle sechs Verkünder ihre glänzenden Instrumente an die Lippen und schon der erste, durchdringende Ton beendete das Gemurmel und Getuschel auf dem Versammlungsplatz.
Teri betrachtete die Gruppe der Bewerber, die sich im Alter von zwölf Jahren in die Rolle der Scharanwärter einschreiben konnten. Teri traute es sich zu, jeden einzelnen von ihnen in jeder denkbaren Disziplin zu schlagen. Ihr Blick blieb an den Augen von Aeta hängen. Noch im vergangenen Sommer hatten Teri und Aeta am Strand zusammen gespielt. Teri mochte das drahtige, brünette Mädchen. Im Spiel war sie eine der Ehrgeizigsten und Schnellsten gewesen. Nun gut, das mochte für einen Mannschaftsgrad ausreichend sein, aber Teri fand, dass es nicht ausreichte, stark und schnell zu sein, um ein Schwalbenschiff zu leiten. Aeta würde es nie zum Kapitän bringen, Teri hielt sie einfach für zu dumm.
Oder Raag mit seinem massigen Körper. Sicher, er war kräftig wie kein anderer seines Alters, aber welcher Kapitän würde ihn haben wollen? Raag bewarb sich nun schon im dritten und letzten Jahr um einen Platz in der Sturmflottenschar. Aber er war viel zu schwer. Der Kapitän, der ihn auswählte, könnte sich ja gleich einen Felsbrocken in den Mast hängen, befand Teri. "Soll der Kerl doch Schneckenschiff fahren!", zischte sie zwischen halbgeschlossenen Lippen hervor. Fünf Jahre fehlten ihr, um sich bewerben zu können, lächerliche fünf Jahre. - Es war einfach ungerecht!
Teris heimliche Hoffnung war es, dass der Obmann der Kapitäne bekanntgab, dass dieser jämmerliche Haufen von fetten Idioten zu gar nichts tauge und man das Alter für Bewerbungen darum auf sieben Jahre herabsetze. Dann würde Teri als erste auf die