Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ernst Tegethoff
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742762917
Скачать книгу
sich neben sie.

       Darauf schaute er ihr ins Gesicht und bemerkte, daß

       die Natur nie ein schöneres Weib gebildet hatte. Als

       er aber von ihr ging, war der Funke sündiger Liebe in

       seiner Brust entzündet. Eines Tages ließ er seine

       Tochter vor sich kommen und sprach zu ihr: »Liebe

       Tochter, erzürne dich nicht über das, was ich dir jetzt

       sagen werde!« »Vater,« entgegnete diese, »Euer Wille

       ist mir nie mißfällig.« »Liebe Tochter,« hub der

       König wieder an, »ich habe deiner Mutter auf ihrem

       Totenbette versprochen, daß ich nach ihr keine andere

       Frau heiraten wolle als eine solche, die ihr gliche.

       Aber nur du allein kommst ihr auf der weiten Erde

       gleich. Sieh, meine Barone wollen nicht, daß das ungarische

       Reich ohne männlichen Erben bleibe, deshalb

       hat die Geistlichkeit mir die Erlaubnis erteilt,

       mich mit dir zu vermählen: du sollst gekrönte Königin

       von Ungarn sein!« »Vater,« antwortete die Jungfrau,

       »laßt diese Worte! Ich würde lieber den Tod erleiden,

       als meiner Seele Seligkeit verlieren.« »Töricht

       hast du mir geantwortet,« rief der Vater voll Zorn,

       »wenn du dich meinem Willen nicht fügen willst, so

       werde ich dich zwingen!« Ohne Abschied ging er hinaus

       und die Jungfrau kehrte auf den Tod betrübt in

       ihre Kammer zurück.

       Lichtmeß kam und Barone, Ritter und Geistliche

       versammelten sich wieder am Hofe. Der König sagte

       ihnen, daß er ihrem Willen, ein anderes Weib zu nehmen,

       willfahren wolle, und alle waren sehr froh darüber.

       Joie aber hatte durch eine Späherin erfahren,

       daß die Großen des Landes kommen würden, sie vor

       den König zu holen. Als sie dieses hörte, geriet sie in

       große Furcht und wußte nicht, was sie tun sollte. Sie

       trennte sich von ihren Gefährtinnen, ohne daß diese es

       merkten, und eilte von Saal zu Saal. Endlich gelangte

       sie in einen Küchenraum, welcher mit der Hinterwand

       an einen Fluß grenzte. Alle die Küchenknechte waren

       ins Schloß gegangen, um dem Hoftag zuzuschauen,

       so daß Joie ganz allein war. Auf dem Anrichtetisch

       lag ein großes scharfes Küchenmesser, das ergriff sie

       und bat die Gottesmutter, daß sie ihr Kraft verleihe.

       Schon hörte sie, wie die Menge vor ihrer Kammer

       lärmte, wie man kam, um sie vor den König zu holen,

       da faßte sie das Messer fester und mit einem kräftigen

       Schlag trennte sie ihre linke Hand vom Arme und

       warf sie in den Fluß, dann schwanden ihr vor

       Schmerz die Sinne. Als sie wieder zu sich kam, wikkelte

       sie den Stumpf in ein Tuch und trat mit totenblassem

       Antlitz in ihre Kammer, wo vier Grafen ihrer

       warteten. »Eine gute Nachricht bringen wir Euch,

       Jungfrau,« redeten sie diese an, »freuet Euch, Ihr sollt

       Königin von Ungarn werden. Der König erwartet

       Euch im Schloß und trägt Euch durch uns auf, unverzüglich

       vor ihm zu erscheinen.« Schweigend und

       bleich folgte die Jungfrau den vier Grafen vor den

       König, eine Schar Mägde begleitete sie. Der König

       nahm Joie bei der Hand und umarmte sie, dann bemerkte

       er das Blut an ihrem Arm. »Tochter,« sprach

       er, »was ist Euch geschehen?« »Herr,« erwiderte sie,

       »wohl weiß ich, was Ihr von mir verlangen wollt, aber

       Königin werde ich nicht. Seht, mir fehlt die linke

       Hand, und nach unserem Gesetz darf ein König keine

       Frau ehelichen, der eines ihrer Glieder fehlt.« Als der

       König und die Barone den Stumpf sahen, da wurde

       ihre Freude in Leid verwandelt. Der König merkte

       wohl, daß sie solches aus freien Stücken getan hatte,

       um sich seinem Willen zu entziehen, und er befahl

       voll Zorn seinem Seneschall, daß er die Jungfrau

       heute über drei Tage zum Feuertode führe. Die Barone

       erschraken sehr, aber sie wagten nicht, ihren Kummer

       zu zeigen. Da ging der Hoftag in Trauer und Klagen

       auseinander, und der König zog sich auf ein fernes

       Schloß zurück. Der Seneschall blieb zurück, um

       Joie, die im Gefängnis schmachtete, zum Scheiterhaufen

       zu bringen. Die Nachricht, daß Joie verbrannt

       werden sollte, verbreitete sich im ganzen Lande, und

       besonders die Armen, denen sie oft Brot und Kleider

       gegeben hatte, waren von Zorn und Gram erfüllt. Der

       Seneschall beschloß, die Jungfrau zu retten; er ließ

       ein Fahrzeug mit Fleisch und Wein füllen, dann ließ

       er drei Rosse satteln, Joie mußte das eine besteigen

       und der Seneschall und der Kerkermeister ritten zu

       ihren Seiten. So verließen sie im Dunkel der Nacht

       die Stadt und ritten so lange, bis sie ans Ufer des

       Meeres kamen. Da sprach der Seneschall zu der Jungfrau:

       »Ihr wißt, Herrin, daß mir der König bei meinem

       Leben befahl, Euch ins Feuer zu werfen. Aber

       das Mitleid, das ich für Euch empfinde, läßt nicht zu,

       daß ich Euch unter solchen Qualen sterben sehe. Ich

       will Euch in einem segel- und mastlosen Boot aussetzen

       und Euch dem Schutze Gottes anheimstellen, er

       möge Euch geleiten und bewahren.« »Ich bin Euch

       dankbar,« versetzte die Jungfrau, »daß Ihr meinen

       Leib vor dem Feuer gerettet habt, denn lieber will ich

       ertrinken, wenn es Gott gefällt, als verbrennen. Ferner

       bitte ich den wahren Gott von Herzen, daß er meinem

       Vater die Sünde, die er an mir tat, vergeben möge,

       und daß er ihm mehr Freuden verleihen möge, als mir

       beschieden sind.« Der Seneschall führte sie weinend

       in das Schiff, dann befahl er sie Gott und der heiligen

       Jungfrau und stieß den Nachen ins Meer.

       Am neunten Tage landete die Jungfrau mit Gottes

       Hilfe an der Küste Schottlands. Es war gerade Funkensonntag,

       und die Einwohner des Landes trieben