Die Bilder seiner Beerdigung vor ein paar Wochen traten lebhaft aus ihrer Erinnerung hervor.
„Weißt du, Margret, wir haben fest mit euch gerechnet. Ich habe fest mit euch gerechnet. Schade, dass ihr nicht gekommen seid. Verrätst du mir der Grund?“
Ihre Tante schaute aus dem Fenster und schwieg, als hätte sie die Frage gar nicht gehört. Innerhalb weniger Minuten schien sie rapide gealtert zu sein.
„Erzählst du es mir?“ Kriemhild ließ nicht locker.
„Was soll ich erzählen, Kind?“
„Wieso du jahrzehntelang keinen Kontakt zu ihm hattest.“
Margret blickte auf Kriemhilds leeren Teller und nahm ihn vom Tisch, um in die Küche zu gehen. „Es hat dir geschmeckt? Das macht die gute Seeluft. Darf ich dir nachfüllen?“
„Bitte setz dich, Tante. Ich trage ihn selbst zurück. Da fällt mir ein, ich habe einen Brief für dich dabei, von Großvater. Ich laufe schnell hoch, um ihn zu holen.“
Erst, als der Porzellanteller klirrend zu Boden fiel, bemerkte Kriemhild das leichenblasse Gesicht. Margret war erstarrt, die Hand zitterte. Sie zog ihrer Tante einen Stuhl heran und half ihr beim Hinsetzen. Die alte Frau stand völlig neben sich.
„Geht es dir gut? Soll ich ein Glas Wasser holen?“
„Nein, nein. Es ist nur … es geht mir gut. Das alles kommt sehr plötzlich … Behalte den Brief bitte bei dir. Ich … werde ihn später lesen.“
Vorsichtig sammelte Kriemhild die Scherben vom Boden auf und fegte die Splitter zusammen. „Wenn du willst, bleibe ich bei dir. Vielleicht setze ich einen Tee auf? Es tut mir leid, ich hätte den Brief nicht erwähnen sollen. Hätte ich gewusst, dass er dir so zusetzt …“
„Keine Sorge, es geht mir gut. Geh nur. Ich wollte dir den Tag nicht verderben. Du sollst dich erholen und dir keinen neuen Kummer aneignen. John ist im Garten, ich werde ihn rufen. Du solltest das herrliche Wetter der ersten Juniwoche nicht verpassen.“
„Bist du sicher?“
Margret lächelte und tätschelte Kriemhilds Wangen. „Ich bin sicher! Und nun raus mit dir.“
Ihre Tante hatte Recht behalten. Das strahlende Wetter versprach einen warmen Sommer. Das Meer war ruhig und glatt wie ein Spiegel. Leise Wellen schwappten auf und ab und kleine Krabben huschten über den Sand. Es war Samstag und Kriemhild fragte sich, wie lang die Geschäfte im Ort geöffnet hatten. Der Weg durch die Dünen zur Straße wäre sicher der kürzeste, um das herauszufinden.
Sie schnallte ihre Sandalen ab und stapfte durch die hügligen Sandberge. Der weiße, warme Puder gab sanft unter ihren Füßen nach. Strandhafer und Sandsegge neigten sich im Wind. Die Brise, die vom Meer herüberwehte, drückte die Halme landeinwärts und ließ sie aussehen wie gebeugte grüne Haarbüschel.
Kriemhild blieb stehen und genoss den Blick auf den Ozean. Am Horizont verschmolzen Himmel und Wellen. Eine lautlose Bewegung aus dem Augenwinkel ließ sie sich umdrehen.
Nur wenige Schritte von ihr entfernt hockte jemand in den Dünen, den sie zuvor nicht bemerkt hatte. Er blickte aufs Meer hinaus, unbeteiligt am Geschehen um ihn herum. Er schien ungefähr in Kriemhilds Alter zu sein und war sonnengebräunt und von ziemlich durchtrainierter Figur. Der Wind warf seine braunen Haarsträhnen immer wieder ins Gesicht, was ihn nicht im Geringsten zu stören schien. Die Art, wie er dort hockte, faszinierte Kriemhild und zog sie in ihren Bann. Seine makellosen Arme umschlossen nicht nur die Knie, sondern auch etwas Anziehendes, das ihn umgab.
Für eine Sekunde lang begegneten sich ihre Blicke, als er bemerkte, dass sie ihn entdeckt hatte. Seine Augen fokussierten sie und sogen sie fesselnd in sich auf. Wie zwei magnetische Opale, die sie in einen schwindelerregenden Strudel hinabzogen. Kriemhild erstarrte, bis eine weiche Welle sie überrollte und wieder freigab.
Die Sekunde war verstrichen. Er schaute demonstrativ in eine andere Richtung, doch etwas blieb an ihr haften. Ein schmerzender Schatten und das brennende Verlangen, noch einmal in seine Augen zu schauen.
Kein Gruß, kein „Hallo“. Erschlagen von der Begegnung stolperte sie weiter Richtung Straße.
Kriemhild gelangte auf die Hauptstraße und stellte enttäuscht fest, dass bis zum Stadtzentrum noch ein langer Fußmarsch vor ihr lag. Weit und breit gab es nichts als verlassene Strandhäuser, die auf die Saison warteten, Dünen und Sand. Ein anthrazitfarbener Jeep parkte halb auf der Fahrbahn, halb im Graben. Kriemhild schaute zurück in die Hügel und ahnte, wem der Wagen gehörte. Eine kribbelnde Million kleine Wassertropfen benetzte sie noch immer.
In der Ferne erkannte sie die Häuser, die ihr Ziel darstellten. Langsam schlenderte sie über den versandeten Gehweg und überlegte, ob sie ein paar Postkarten besorgen und an ihre Freunde versenden sollte. Ein Wagen näherte sich mit überhöhter Geschwindigkeit und lauter Musik aus den wummernden Boxen. Er überholte, fuhr einige hundert Meter weiter, bremste mit quietschenden Rädern ab und kam dann rückwärts wieder auf sie zu.
Ein quietschgelber Pontiac Solstice GXP. Das wusste Kriemhild zufällig ziemlich genau, weil Justus der Protz-Auto-Fan schlechthin war. Er wäre sicher grün vor Neid geworden. Was sie selbst anging, gefiel ihr ganz und gar nicht, dass die beiden Kaugummi kauenden Sunnyboys ihretwegen umgedreht waren und im Schritttempo neben ihr herfuhren. Der Fahrer klappte seine coole Sonnenbrille über den Kopf, während der Beifahrer lässig im Sitz hing und die Musik etwas leiser drehte, bevor er sie ansprach.
„Aber hallo! Sag du es mir, James, was macht ein so hübsches Mädchen wohl allein auf einer einsamen Straße?“
„Keine Ahnung, Jason. Frag sie mal.“
„Können wir dich irgendwohin mitnehmen?“
„Nein danke.“ Sie versuchte kühl zu wirken. „Aber ihr könnt euch verziehen und mir den Tag nicht länger versauen.“
Der Sonnenbrillentyp schlug dem Lässigen aufs Knie. „Wow! Die hat PS unter der Haube!“
„Ach bitte, mach uns die Freude, dich mitzunehmen“, bat der andere. „Sicher bist du unterwegs in die Stadt? Sieh mal, genau dahin wollen wir auch.“
Kriemhild wurde nervös. Die Jungs hatten Recht, wenn sie die Straße einsam nannten und sie zwang sich, das Beben ihrer Stimme zu unterdrücken.
„Witzbold. Selbst wenn ich mitfahren wollte, wo würde ich sitzen? Oder hat das neueste Pontiacmodell vielleicht ‘nen Notsitz im Kofferraum?“
„James! Die Kleine kennt den Namen unseres Wagens! Das macht sie noch interessanter. Hey, wie heißt du? Du bist nicht von hier, richtig? Und was das Sitzproblem angeht …“ Er breitete die Arme aus und schaute auf seinen Schoß hinab. Ihr wurde übel. Vielleicht sollte sie zurück in die Dünen rennen, um die Kerle loszuwerden?
Ein weiteres Motorengeräusch ertönte hinter ihr. Kriemhilds Knie zitterten und sie wünschte, sie hätte die Häuser endlich erreicht. Dann überholte der dunkle Jeep den Pontiac und fuhr auf gleicher Höhe im Schritttempo. Der seltsame Typ aus den Dünen kurbelte das Fenster runter und rief: „Tut mir leid, Jungs, aber die Kleine gehört zu mir. Kommst du?“
Sie wägte kurz ab, was das Beste in der Situation wäre. Doch etwas sagte ihr, dass sie so schnell wie möglich in den Jeep steigen sollte.
„Was willst du, Penner? Hast du etwa mit uns gesprochen?“
„Lass ihn, James. Das ist Sushi-Sam. Mit einem Freak wie ihm haben wir nichts am Hut. Hey, Kleine, falls der Beau dich langweilen sollte, wir sind immer in der Nähe!“
Sie schlug die Tür zu und bemühte sich, nicht zu zittern. Alle Erinnerungen an Justus tanzten lebhaft vor ihren Augen. Sushi-Sam fuhr an und wurde im selben Moment von den grölenden Jungs überholt.
„Danke.“ Sie wagte nicht, ihn anzuschauen. Allein seine Nähe elektrisierte