Es floss in langen Wellen an ihrem Oberkörper hinunter oder tanzte im Wind, wenn er es erfasste. Sie war allein. Ab und zu bückte sie sich in die Wellen und hob etwas aus der Brandung, um es zu begutachten und dann zurück ins Meer zu werfen. Immer wieder blieb sie stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute hinaus auf den Horizont.
Samuel seufzte selbstverachtend. Er hatte gegen eine seiner eigenen Regeln verstoßen. Sein Blick wanderte zurück zum Pier, wo die Jugendlichen sich lärmend umherschubsten. Dann schaute er erneut zu dem fremden Mädchen hinüber. Was gäbe er drum, ihre Gedanken zu lesen. Ach, verdammt!
Samuel beschloss heimzufahren. Seine Eltern waren ohnehin schon aufgebracht genug, wegen der Gespräche, die sie in letzter Zeit immer wieder geführt hatten. Gespräche, die grundsätzlich im Streit geendet und zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt hatten. Er wollte ihnen nicht noch einen zusätzlichen Anlass zum Ärger geben.
Er angelte nach seinen Sandalen und schlug sich den Sand von den Shorts und den Knien, als ihm plötzlich etwas an die Brust sprang. Eine kalte, nasse Nase stupste gegen seine Wangen, während zwei starke Fellpranken sich gegen seinen Oberkörper stützten. Der Hund wedelte fröhlich mit dem Schwanz, als er Sam mit heraushängender Zunge ansah. Samuels Wut und all seine Aggressionen lösten sich augenblicklich in Luft auf. Er grinste breit und klopfte die Flanke des Tieres. „Na, mein Junge, was treibt dich denn in der Dämmerung noch in den Dünen herum?“
Er wuschelte das helle Fell des Labradors und tollte übermütig mit ihm umher. Das Tier hatte seine wahre Freude an dem Spielkameraden und auch Samuel genoss die erfrischende Ablenkung. Er liebte Tiere mehr als Menschen. Sie hatten etwas Ursprüngliches, Unverfälschtes. Sie kannten nur Gut und Böse. All die nervigen Grauzonen der menschlichen Psyche blieben ihnen verschlossen. Dann durchbrach ein heller Ruf das Rauschen der Wellen.
„Jacob? Jacob, komm her!“
Es kam vom Strand. Das fremde Mädchen rief nach dem Hund und ihre Stimme säuselte wie die See nach einem Sturm. Ein angenehmer Schauer durchfuhr Sam. All seine Sinne fokussierten sich auf sie. Für eine Sekunde lang gab er dem nach, doch als es ihm bewusst wurde, blockte er sofort ab.
„Jacob, wo steckst du?“
Instinktiv duckte Sam sich in die Dünen hinab, nahm den Vierbeiner zu sich und strich ihm liebevoll das Fell. „So heißt du also, ja? Jacob? Was für ein feiner Name. Na los, Jacob. Hau schon ab, sie ruft nach dir.“ Dann klapste er ihm auf die Hüfte und der Labrador streunte zurück an den Strand.
„Da bist du ja. Komm her, das machst du nicht noch einmal, verstanden?“
Der Hund wedelte seinem Frauchen zu und schaute immer wieder in die Dünen, um sie auf ihn aufmerksam zu machen.
„Was ist denn da? Ich sehe nichts. Komm her, wir gehen zurück zum Haus. Ich hoffe nicht, dass du die Möwen gejagt hast.“
Ein letztes Bellen hallte über den Strand. Sam erhob sich aus seinem Versteck und blickte dem rothaarigen Mädchen lange nach. Wieso wurde er das Gefühl nicht los, dass sie anders war als die Mädchen, die er aus der Gegend kannte?
Du hast sie schon viel zu lange angesehen, vergiss sie einfach. Seine innere Stimme holte ihn schnell in die Realität zurück. Er drehte sich um und stapfte durch die Dünen zu seinem Wagen.
Kapitel 3
Margarethe
Kurz zuvor stand Margret auf der Veranda und genoss die Abendstimmung, während sie ihrer Nichte lächelnd nachblickte. Dabei zog sie den Strickschal enger um ihre zierlichen Schultern. Der Wind frischte auf, doch der Himmel erstrahlte in einem wunderschönen Goldorange. Nicht mehr lange und die Sonne würde untergehen.
Kriemhild stapfte barfuß durch die Wellen und erinnerte Margret an sich selbst – damals, vor fast fünfzig Jahren, als sie zum ersten Mal den malerischen Strand erkundet hatte. Die Landschaft hatte sich seitdem beinahe nicht verändert.
Dabei war alles anders gekommen, als sie es sich mit ihren süßen siebzehn Jahren erträumt hatte. Manchmal, wenn sie nachts lange wach lag und John tief und fest an ihrer Seite schnarchte, erinnerte sie sich daran, dass sie auch Deutsche war. Und dann kam es ihr vor wie ein dunkler Traum, ein Traum aus einer längst vergangenen Zeit – der Nachkriegszeit. Jahre, denen noch immer der Schrecken anhaftete, den die ganze Welt am liebsten vergessen und ungeschehen machen würde.
Ein leises Klacken auf den Holzbohlen der Veranda ließ Margret aufblicken. Jacob setzte sich direkt auf ihre Zehenspitzen – wie er es immer tat – und sah sie mit treuen Augen an. Ihre Hand glitt hinab und kraulte sein Ohr, als sie flüsterte: „Lauf, Jake. Lauf zu Kriemhild, sie sieht so einsam aus auf dem endlosen Strand.“
Sofort erhob sich der Hund, wedelte mit dem Schwanz und lief los, als hätte er verstanden, dass jemand gerade einen Freund brauchte.
Margrets Gedanken fielen in der Zeit zurück.
Es war ein paar Straßen weiter von dort, mehr zum Stadtzentrum hin. Ein Wagen fuhr vor, ein silberroter Lowrider, Cadillac. Wie John das Auto geliebt hatte! Bis zum bitteren Ende, als er es in Old George’s Liquerstore parkte, nachdem er mit seinen Kameraden zu tief ins Glas geschaut hatte.
„Siehst du? Habe ich dir zu viel versprochen, mein Herz?“, fragte John.
Margret schaute an der Fassade des weißen Holzhauses hoch. Es war der typische Kolonialstil, ein für die Gegend beinahe zu pompöses Haus mit Veranda, die sich hervorhob und den Balkon im ersten Stockwerk mit einbezog. Aber nach allem, was sie bisher von den Gilberts mitbekommen hatte, passte es wie die Faust aufs Auge. Sein Vater war ein sehr angesehener Arzt, der John im Vertrauen eine Alternative der anderen Art vorgeschlagen hatte, wie sie später herausfand. Eine Alternative, das naive, schrill lachende deutsche Mädchen mitsamt ihrem kleinen „Problem“ wieder loszuwerden.
Sie liebte John noch mehr, wenn sie daran dachte, wie er sie vor seinem Vater immer in Schutz genommen hatte.
„Es sieht sehr hübsch aus“, antwortete sie. „Können wir es uns von innen anschauen?“
„Natürlich! Wieso glaubst du sind wir sonst hier?“
Er stieg aus, ging um den Wagen und öffnete ihr – wie es sich gehörte – die Tür, um ihr mit starker Hand beim Aussteigen behilflich zu sein. Sie stöhnte kurz auf, bevor sie aufrecht auf dem Gehweg stand. Besorgt sah John sie an. „Ist alles in Ordnung?“
„Ja, alles bestens. Lass uns hineingehen.“
Das Sommerhaus der Gilberts entpuppte sich als das Romantischste, Verrückteste und Extravaganteste, was Margret in ihrem bisherigen Leben geboten bekommen hatte. Die Schwierigkeiten jener Zeit – vor allem die gesellschaftlichen – blendete sie grundsätzlich aus, wenn sie an ihr erstes gemeinsames Heim zurückdachte. In dem Haus hatte sie die schönsten und zugleich leidvollsten Stunden ihrer – wie Vater sagte verkorksten – Jugend verbracht.
Johns Arme umschlangen sie zärtlich, als er zu ihr auf die Veranda hinaustrat und ihre Schläfe küsste. „Ist das nicht ein wundervoller Abend?“
„Ja, das ist es.“ Margret nickte und fand zurück in die Gegenwart. „Einer von vielen, die wir beiden erleben durften. Womit haben wir das nur verdient?“
John lächelte. Sie konnte seine Mundwinkel an ihrer Wange spüren. „Woran hast du eben gedacht? Ich kenne diesen Ausdruck in deinen Augen. Hast du jemals bereut, hier zu sein?“
„Nein! Das weißt du doch. Auch jetzt nicht, wenn ich sie betrachte. Sie ist so groß geworden, und bildhübsch. Ganz anders als ihre Mutter. Was meinst du, John, werden die Jungs aufmerksam auf unsere Kriemhild?“
„Das