Traum oder wahres Leben. Joachim R. Steudel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim R. Steudel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738074062
Скачать книгу

      Die Su­tren wur­den auch bei die­sen To­ten ge­le­sen, doch zu de­ren Ge­den­ken fand sich kei­ner au­ßer Wang Lee und mir ein. Je­der von uns bei­den hing stumm sei­nen ei­ge­nen Ge­dan­ken nach.

      Ich über­leg­te, was die­se Män­ner wohl be­wo­gen hat­te, so eine Tat zu be­ge­hen, und warum sich Men­schen im­mer wie­der ge­gen­sei­tig um­brin­gen. Doch ich kam zu kei­nem rech­ten Er­geb­nis, da es so vie­le Grün­de gibt, die zu sol­chen Ta­ten füh­ren, dass ein­fach kei­ne Ver­all­ge­mei­ne­rung mög­lich war. Nur eins ist in al­len Fäl­len gleich: Alle, die eine sol­che Tat be­ge­hen, sind in die­sem Mo­ment von der Rich­tig­keit ih­res Han­delns über­zeugt, und nur we­ni­ge ma­chen sich am Ende Ge­dan­ken dar­über oder be­reu­en, was sie ge­tan ha­ben. Ich hat­te bis­her kei­nem Men­schen per­sön­lich das Le­ben ge­nom­men, doch in­di­rekt zum Tod ei­ni­ger die­ser Chi­ne­sen bei­ge­tra­gen. Nun stand ich da und ver­such­te, vor mei­nem Ge­wis­sen die­ses Han­deln zu recht­fer­ti­gen.

      Im Grun­de wuss­te ich, dass mein Ein­grei­fen die ein­zi­ge Mög­lich­keit ge­we­sen war, den Be­dräng­ten zu hel­fen. Es wür­de wohl auch kei­nen ge­ben, der mich des­we­gen ver­ur­tei­len wür­de, den­noch war ich be­drückt.

      Als ich durch Chen Shi Mal aus die­sen sich stän­dig im Kreis dre­hen­den Ge­dan­ken ge­ris­sen wur­de, war ich sehr froh.

      ›Darf ich dich kurz stö­ren, Xu Shen Po?‹

      Ich rich­te­te mich auf und sah ihn an.

      ›Na­tür­lich! Was gibt es denn?‹

      ›Der ja­pa­ni­sche Fürst möch­te dich ger­ne spre­chen und bit­tet dich, zu ihm zu kom­men.‹

      Ich nick­te Wang Lee zu, der sei­ne An­dacht gleich­falls be­en­det hat­te, und be­gab mich zum Fürs­ten, der mich mit dem dol­met­schen­den Sa­mu­rai er­war­te­te.

      ›Ent­schul­di­gen Sie, das wir Sie ge­stört ha­ben, doch der Fürst muss ei­ni­ge wich­ti­ge Din­ge klä­ren!‹

      ›Kein Pro­blem! Um was han­delt es sich denn?‹

      ›Da wir mor­gen in die­ses Dorf auf­bre­chen, in dem die Ver­letz­ten ge­sund ge­pflegt wer­den sol­len, möch­te Date Ma­sa­mu­ne ger­ne wis­sen, wie lan­ge es wohl dau­ern wird, bis wir wei­ter­rei­sen kön­nen?‹

      ›Oh, das kann ich Ih­nen nicht ge­nau sa­gen. Doch ich den­ke, dass die Schwer­ver­letz­ten erst in zwei bis drei Wo­chen dazu fä­hig sind. Selbst dann wird es nur lang­sam und mit Be­hin­de­run­gen vor­an­ge­hen.‹

      Mit ei­nem mür­ri­schen Ge­sichts­aus­druck dis­ku­tier­te der Fürst nach mei­ner Ant­wort mit dem Sa­mu­rai. Erst nach ei­ni­ger Zeit sprach mich Ka­ta­ku­ra Shi­ge­na­ga wie­der an.

      ›Der Fürst be­fin­det sich der­zeit in ei­ner schwie­ri­gen Lage. Zum einen ist die­ser lan­ge Auf­ent­halt in kei­ner Form beim Sho­gun ent­schuld­bar, und der Fürst möch­te so zei­tig wie nur ir­gend mög­lich auf­bre­chen. Au­ßer­dem hat er un­ser Schiff zur Mün­dung des Qjang­wei He nach Lia­nyun­gang be­or­dert, das uns dort in den nächs­ten Ta­gen er­war­tet. Wenn wir uns gar zu sehr ver­spä­ten, wird es viel­leicht wie­der da­v­on­se­geln. Aber er möch­te auch sei­ne Män­ner nicht im Stich las­sen und nicht ohne sie auf­bre­chen. Nun über­legt er, ob er ohne die Ver­letz­ten los­ge­hen soll­te. Er könn­te sich bei dem Schiff mel­den und an­schlie­ßend am Kai­ser­hof eine of­fi­zi­el­le Be­schwer­de über den Vor­gang ein­rei­chen. Die Ver­wun­de­ten könn­ten sich nach ih­rer Ge­ne­sung zur Küs­te be­ge­ben und wür­den dann mit auf­ge­nom­men, um ge­mein­sam die Rück­rei­se an­zu­tre­ten.‹

      Ich über­leg­te einen Au­gen­blick und war mir nicht si­cher, ob ich un­se­ren Ver­dacht er­wäh­nen soll­te, doch schließ­lich ent­schloss ich mich, sie ohne eine di­rek­te Aus­sa­ge auf die glei­chen Ge­dan­ken zu brin­gen.

      ›Ich weiß nicht, ob der Ge­dan­ke gut ist! Vor al­lem we­gen der Be­schwer­de am Kai­ser­hof. Als Sie dort den Wunsch zu die­ser Rei­se äu­ßer­ten, hat­ten Sie da den Ein­druck, dass man be­geis­tert über das An­sin­nen war?‹

      ›Nein, ei­gent­lich nicht! Im Ge­gen­teil, man hat lan­ge ver­sucht, es dem Fürs­ten aus­zu­re­den. Doch wie­so fra­gen Sie jetzt da­nach?‹

      ›Nun, kurz be­vor Sie ka­men, wur­den wir durch einen Bo­ten vom Kai­ser­hof an­ge­wie­sen, nichts von den Kampf­küns­ten der Mön­che preis­zu­ge­ben. Wir soll­ten den Ein­druck er­we­cken, dass es sich nur um ein ein­fa­ches bud­dhis­ti­sches Klos­ter han­delt und die Ge­rüch­te um die Kampf­mön­che maß­los über­trie­ben sei­en. Der Über­brin­ger die­ser Nach­richt hat sich wäh­rend Ih­rer An­we­sen­heit noch im Klos­ter auf­ge­hal­ten und al­les be­ob­ach­tet. Er war aber mit ei­ni­gen Din­gen nicht ganz zu­frie­den. Vor al­lem der Zwi­schen­fall, bei dem zwei Ih­rer Män­ner Wang Lee und mir aus­wi­chen, hat ihm sehr miss­fal­len.‹

      Ich stock­te kurz, denn ich war drauf und dran, al­les preis­zu­ge­ben. Ein we­nig vor­sich­ti­ger sag­te ich des­halb:

      ›Nun, was glau­ben Sie, was ge­schieht, wenn sich der Fürst am Kai­ser­hof be­schwert? Ich den­ke, man wird sein Be­dau­ern aus­drücken, ver­spre­chen, den Vor­fall zu un­ter­su­chen, und viel­leicht auch eine un­lieb­sa­me Per­son als Sün­den­bock hin­stel­len. Doch ins­ge­heim wird man sich höchs­tens är­gern, dass nicht die ge­sam­te Ge­sandt­schaft in den Ber­gen ver­schol­len ist.‹

      Nach­denk­lich sah mich der Sa­mu­rai an und über­setz­te das Ge­hör­te wie­der dem Fürs­ten. Des­sen Ge­sichts­aus­druck ver­fins­ter­te sich bei je­dem Wort mehr, und es folg­te eine sehr ge­reiz­te Dis­kus­si­on zwi­schen den bei­den. Nach ei­ni­ger Zeit wand­te sich Ka­ta­ku­ra Shi­ge­na­ga wie­der an mich und sag­te:

      ›Der Fürst ist sehr auf­ge­bracht über das Ver­hal­ten des Kai­ser­ho­fes, hat aber selbst schon die­se Ver­mu­tun­gen ge­habt. Er über­legt nun, wie er sich ver­hal­ten soll.‹

      ›Warum will er un­be­dingt dar­auf re­agie­ren? Wie hät­te er sich denn in der Si­tua­ti­on des Kai­ser­ho­fes ver­hal­ten? Si­cher­lich nicht viel an­ders, den­ke ich. Au­ßer­dem ist nicht dar­auf re­agie­ren viel be­las­ten­der für die Be­trof­fe­nen. Ich wür­de in der Si­tua­ti­on des Fürs­ten je­den­falls so han­deln.‹

      Der Sa­mu­rai sah mich an und schi­en zu über­le­gen, ob und wie er das dem Dai­myo über­set­zen soll­te.

      ›Über­set­zen Sie ru­hig, was ich ge­sagt habe. Ich ste­he dazu, und wenn der Fürst ehr­lich ist, wird er mir zu­stim­men.‹

      Ka­ta­ku­ra Shi­ge­na­ga zö­ger­te im­mer noch und über­leg­te krampf­haft, wie er es be­schö­ni­gen könn­te. Doch der Dai­myo wur­de un­ge­dul­dig und frag­te barsch nach. Dar­auf­hin gab der Sa­mu­rai mei­ne Wor­te un­ver­än­dert wie­der. Im ers­ten Mo­ment stieg Zorn­rö­te in das Ge­sicht des Fürs­ten, doch schon we­ni­ge Au­gen­bli­cke spä­ter lä­chel­te er und sag­te mit ei­nem ver­söhn­li­chen Ge­sichts­aus­druck:

      ›Sie ha­ben recht, ich hät­te si­cher ähn­lich ge­han­delt! Aber es ist schwie­rig, das hin­zu­neh­men und nicht dar­auf zu re­agie­ren, ohne sein Ge­sicht zu ver­lie­ren.‹

      Der Sa­mu­rai über­setz­te sei­ne Wor­te so­fort und schi­en sicht­lich