Im zweiten Fall geht es etwas brisanter zu. Der Anruf kam früh am Morgen, eine gewisse Frau Yunoma war am Apparat, die aufgebracht schilderte, dass sie von einer Bekannten gehört hätte, ich sei der beste Anwalt der Stadt und dass sie meine Hilfe bräuchte. Am vergangenen Wochenende sei es nämlich im Rahmen einer Feier zu sexueller Belästigung gekommen, für die es mindestens zwei Zeuginnen gäbe und darüberhinaus auch der Barkeeper davon mitbekommen haben müsste. Mein erster Eindruck war, dass sie Recht hat - ich bin tatsächlich der beste Anwalt der Stadt. Aber auch im Fall hat sie offenbar gute Argumente für sich, so dass ich mit ihr vereinbarte, sie solle sich mit Frau von Gesollte kurzschließen, um einen Termin auszumachen. Ich muss gleich mal nachfragen, was daraus geworden ist.
Ein paar mehr Informationen brauche ich schon, bevor ich sicher bin, dass der Fall positiv für mich ausgeht. Das wäre was! Aktuell fehlen nämlich nur noch zwölf Fälle, zwölf Fälle bis zu den tausend! Tausend gewonnen Fälle! Und das in meinem Alter! Damit würde ich nicht nur der beste Anwalt der Stadt sein, ich wäre sogar unter den besten zehn des Landes und würde endlich in die Fußstapfen meines Vaters und dessen Vaters treten, denn beide waren auch extrem erfolgreiche Anwälte. Selbst meine Mutter hat sehr erfolgreich als Strafverteidigerin gearbeitet und sich einen Namen gemacht. Anwalt sein, dass liegt uns allen im Blut. Tausend gewonnene Fälle mit 40 Jahren, das ist diese magische Grenze und ich schnuppere schon dran.
Gerade das letzte Jahr lief unglaublich gut. In den vergangenen knapp elf Monaten habe ich bereits 196 Fälle erfolgreich bestritten, das sind fast 18 Fälle pro Monat. Verloren habe ich nicht einen Fall. Ich gebe zu, dass ich in all der Zeit nicht besonders viel geschlafen habe - und der Urlaub fiel obendrein das Jahr auch noch aus. Gelohnt hat es sich aber und ich musste einmal mehr feststellen, dass es wirklich nur auf die Vorbereitung und die Kommunikation ankommt. Wenn man die Kläger und die Richter einzuschätzen weiß, dann kann man sich immer die richtige Strategie zurecht legen. Natürlich muss man auch frühzeitig erkennen, ob ein Fall gewinnbar ist oder nicht, weshalb ich auch bestimmt schon über 200 Fälle dieses Jahr abgelehnt habe. Das mache ich aber in der Regel schon nach dem ersten Treffen mit der jeweiligen Person. Das Gesicht, die Mimik und die Körpersprache sagen so viel über eine Person aus, wenn das die Leute wüssten, sie wären verblüfft. Vieles von dem, was ich über das Lesen von Menschen gelernt habe, stammt noch aus der Zeit meiner Praktika. Mein Mentor hat mich damals immer wieder auf die vielen kleinen Details aufmerksam gemacht, die dafür wichtig sind. Thomas schau, hast du das Zucken der Mundwinkel gesehen, das sind Mikroexpressionen. Wenn die so aussehen, stehen sie für Verachtung. Der Typ ist geprägt von seinen Vorurteilen gegenüber Frauen. Hab ich gestaunt, als sich das im Laufe der Verhandlung immer mehr zeigte. Ein anderes Mal erklärte er mir Thomas, siehst du die Kopfhaltung, immer leicht nach unten blickend? Das ist Scham. Sie vermeidet auch direkten Augenkontakt zum Opfer. Und da, das Schlucken bevor sie antwortet. Alles Zeichen dafür, dass sie schuldig ist. Mir wurden damals die Augen für eine ganze neue Welt geöffnet, seither bin ich fasziniert und verschlinge Literatur zu dem Thema und überprüfe die Hypothesen, die darin aufgestellt werden. Dank meines Berufes habe ich die Möglichkeit, so vielen Menschen zu begegnen, da bietet sich das einfach an. Und das Beste ist, wenn man dieses Hintergrundwissen besitzt, können Gegenargumente noch so logisch klingen, die Indizien bewahrheiten sich laufend. Ich würde behaupten, es ist Zwischen-den-Zeilen-lesen-2.0.

Ich erhebe mich aus meinem gepolsterten Lederstuhl und drehe mich um. Die große Fensterfront mit den langen, halbdurchsichtigen Gardinen breitet sich vor mir aus. Ich gehe zur Schiebetür und ziehe sie zur Seite, woraufhin mir frische Luft entgegen strömt, während ich auf die Veranda trete, auf der ein kleiner Zweisitzer steht, überdacht und gemütlich. Zwei kleine Stufen führen von der Veranda in den extra angelegten Garten, der einen Hauch von Zen hat, eine gewisse Schlichtheit. Alles wirkt abgestimmt und die kleinen Steinberge an den Wegrändern haben etwas faszinierendes. Die Idee für diesen Garten hatte ich, weil mir wichtig war, ein Rückzugsgebiet zu haben, das möglichst nah an der Arbeitsstätte ist. In einer Zeitschrift hatte ich dann gelesen, dass gerade im dicht besiedelten Stadtraum der Trend im Kommen ist, selbstangelegte Kleingärten zu kreieren. Die Autoren nannten es damals quasi eine Oase der Zuflucht inmitten der Großstadt, was mir sehr gut gefiel. Eigens für den Garten haben Herr Russ und ich dann Pedro eingestellt, der zweimal die Woche kommt und den idyllischen Garten pflegt.
Der kleine Teich am nördlichen Ende ist ein wahrer Hingucker und Pedros ganz besonderer Stolz. Zunächst waren wir dagegen, weil er einen Brunnen dafür bauen musste und das rechtlich nicht ganz einfach war. Sein Konzept aber war überzeugend und ich möchte den Teich mit seinen zwölf Goldfischen nicht missen, weil ich seit der Inbetriebnahme jeden Tag aufs Neue herkomme und die Fütterung übernehme. Die Fische bekommen nicht besonders viel, aber dafür hochwertige Nahrung, da dies laut Pedro immens wichtig sei, weil gerade hier in der Stadt den Pflanzen und Algen einige natürliche Stoffe zum richtigen Gedeihen fehlen würden. Ich kenne mich mit diesen Dingen nicht aus, aber vertraue ihm. Das Futter riecht etwas streng, aber irgendwie gehört das dazu und stört mich auch nie lange, denn wenn die Fische mich kommen sehen, schwimmen sie immer schon gespannt auf die tägliche Ration an die Oberfläche und lenken mich entsprechend ab. Pedro sagt, einige der Fische sind bereits über acht Jahre alt, was für Freiluftfische ein beachtliches Alter darstellt. Einige von ihnen erkenne ich inzwischen am Muster, bin aber niemand der deswegen der Namensgebung verfällt. Der Fisch mit dem leicht dunkleren Silberstreifen an der rechten Seite war die letzten Tage etwas träge, scheint sich aber über das Wochenende wieder gefangen zu haben und schwimmt heute deutlich schneller durchs Wasser. Gierig verschlingen die Fische alles, was ich ihnen vorsetze und blicken dann fast fragend nach dem Motto auf: War das jetzt schon alles? Ich zucke mit den Achseln, “Ja, alles schon weg, morgen gibt es mehr.”
Während ich die Fische beobachte, wie sie sich langsam wieder verteilen, denke ich an die Zukunft. Die Schallmarke der tausend gewonnenen Fälle ist nah, selbst überregional hat dies schon für Aufsehen gesorgt und weil in zwei Monaten ein großer Kongress stattfindet, bei dem immer Redner mit besonderen Talenten oder Werdegängen sprechen dürfen, wäre es elementar wichtig, die fehlenden zwölf Fälle schnellstmöglich zu gewinnen. Der Veranstalter hat bereits bei mir angefragt und vorgeschlagen, dass ich dort sprechen könnte, sofern denn die tausend bis nächsten Monat geknackt sind. Ein bisschen Vorbereitungszeit braucht so eine Veranstaltung ja und Planungssicherheit spielt in diesen Tagen eine wichtige Rolle. Nach den letzten Monaten und den zwei heutigen Fällen dürfte das alles aber definitiv ein Kinderspiel werden. Was auf den Kongress folgen könnte, sind große Aufträge, eine Menge PR und wer weiß, vielleicht habe ich irgendwann so viel Erfolg, dass ich Herrn Russ nicht mehr brauche, um die Miete zu stemmen. Eine riesige Kanzlei mit mehr eigenen Mitarbeitern hätte schon was für sich.
Genug der Pause. Langsam schlendere ich zurück über den mit Kieseln ausgelegten Weg, schließe die Schiebetür hinter mir und betrete kurz darauf das Vorzimmer, in dem sich Frau von Gesollte aufhält und telefoniert. Sie gibt mir ein Handzeichen, dass es nur eine Minute dauert, weshalb ich selbstverständlich warte. Seit insgesamt 43 Jahren arbeitet sie nun in diesem Büro, eine unfassbare Zeit. Sie sagt, sie habe alles gesehen, was man in Anwaltsbüros sehen könne, inzwischen sei sie kompetent genug, um 80 Prozent der Fälle selbst zu lösen. Für die anderen 20 Prozent, fügte sie lächelnd hinzu, würde ich dann doch noch benötigt werden. Sie legt auf. “Haben Sie den Termin mit Frau Yunoma vereinbart? Sie hatten mir keine Nachricht gegeben.” Skeptisch zieht sie eine Augenbraue hoch, eine Fähigkeit, die ich nie gelernt habe. “Ein bisschen mehr Respekt im Ton, bitte. Frau Yunoma war etwas ungewiss, weil ihre Tochter noch zwei Auftritte diese Woche hat. Sie wollte das klären und sich noch einmal melden. Das hat sie noch nicht getan.” Ich räuspere mich. “Verzeihung, Sie wissen ja, die Tausendermarke fällt möglicherweise mit genau diesem Fall, ich kann es gar nicht abwarten.” Sie schüttelt mit dem Kopf. “Ob die nun heute, morgen oder in zwei Wochen fällt, ist doch egal. Sie sind und bleiben ein guter Anwalt.” Guter Anwalt reicht aber nicht. “Sie wissen genau, dass der Kongress demnächst stattfindet und ich die PR gut gebrauchen kann, von daher muss jetzt alles etwas schneller gehen. Rufen Sie Frau Yunoma noch einmal an und machen Sie für diese Woche noch etwas