Ich wollte doch aber noch irgendwas anderes schauen. Vergessen, fällt mir schon wieder ein. Da kommt auch der Bus, sechs Minuten Verspätung, ganz schön viel für die frühe Uhrzeit. Er hält mit der hinteren Tür neben mir, so dass ich genug Zeit habe, die Aufschrift zu lesen: Heute schon aufgewacht? Werbung für Matratzen, auf denen man himmlisch gut schlafen können soll. Aufgewacht schon, sonst könnte ich das ja jetzt nicht lesen, denke ich mir. Bei all dem Blödsinn wäre eine weitere Runde Schlaf vielleicht gar nicht so verkehrt, aber auf der Arbeit werde ich dazu keine Zeit haben. Ich steige ein und halte meine Fahrkarte hoch. Der Busfahrer erkennt mich im Spiegel und nickt mir zu, die Tür schließt und der Bus setzt sich in Bewegung. Kaum ist der Bus losgefahren, klingelt mein Handy. Das Display signalisiert einen Anruf von Richard Zweigritter, meinem Chef und Redaktionsleiter der Zeitung. Wir kennen uns seit meinem Vorstellungsgespräch vor etlichen Jahren. Er war damals federführend bei meinem Interview und beeindruckte mich zutiefst mit seinem Wissen und seiner Menschenkenntnis. Auf Anhieb haben wir uns verstanden und fortan ist er so etwas wie mein Ziehvater in der Zeitung geworden. Klar lernt man im Studium so allerlei über Journalismus, aber die Praxis sieht doch immer etwas anders aus. Was ich von Richard gelernt habe, könnte ich zwar heute schon in einem großen Band über das perfekte Schreiben von Artikeln zusammenfassen, aber würde wohl trotzdem nur einen Bruchteil seines Wissens wiedergeben.
“Guten Morgen Richard, ich bin auf dem Weg zur Arbeit, was kann ich für dich tun?”, begrüße ich ihn. “Guten Morgen Rolf, ich habe eine Frage. Traust du dir zu, einen Artikel oder sogar eine Reihe von Artikeln über einen Musiker zu schreiben? Ich weiß, das ist sonst nicht dein Gebiet, aber hast du nicht schon mal so etwas gemacht?” Vor ein Paar Jahren war tatsächlich mal eine lokale Band ins Rampenlicht gerückt, weil sie einen sehr erfolgreichen Song produziert hatte. Als sie daraufhin erstaunlich hohe Beträge für soziale Stiftungen gespendet haben, sind sie auch in meinen Fokus gerückt und ich habe sie interviewt. Beeindruckende Menschen waren das, die sehr bodenständig waren und sich nicht viel aus ihrem plötzlichen Ruhm machten. Was sie jetzt machen, weiß ich aber nicht. Ich habe ewig nichts mehr von ihnen gehört. “Ja, da war mal was. Aber wir haben doch mit Christian und Evelyn zwei Mitarbeiter, deren Ressort dazu viel besser passt oder gibt es besondere Hintergründe?” Christian und Evelyn sind beide im Kulturbereich tätig, während ich mich mehr um Soziales und Recht kümmere, manchmal auch in Richtung Unterhaltung aber eher selten. “Christian hat Urlaub die nächsten zwei Wochen und unglücklicherweise fällt Evelyn wegen eines Unfalls mindestens vier Wochen aus. Du bist mein erster Ersatzkandidat, weil ich weiß, was du drauf hast. Komm bitte in mein Büro, sobald du da bist, ja?” Ich antworte ihm, dass ich das natürlich mache und wir dann vor Ort alles Weitere besprechen können. Es piept und eine weibliche Stimme benennt den nächsten Stop, noch eine Haltestelle.
Kapitel 3

Am selben Tag in einem Bürogebäude in der Innenstadt
Die Waage der Justitia ziert den Hintergrund, in großen, alt und elegant wirkenden Buchstaben ist das Wort Diplom zu lesen und der Stempel der Universität ist rund und kräftig. Im goldenen Bilderrahmen hängt das wertvollste Dokument meines Lebens über dem kleinen Barschrank mit eingebautem Minikühlschrank, auf dem ein Gläserset aus drei Teilen aufgebaut ist. Das vierte Glas halte ich selbst in der Hand, gefüllt mit einem kleinen Schluck Whiskey. Selbiger war nicht ganz billig, knapp unter 100€ die Flasche, aber der Geschmack rechtfertigt das. Wenn es etwas gibt, was das Geld wert ist, dann sind das die Dinge im Leben, die für eine ekstatische Begeisterung der Sinne sorgen und dazu gehört dieser speziell in Schottland gebraute Whiskey definitiv.
Mein Blick schweift durch den mit Mahagonimöbeln ausgestatteten Raum, in dem die Regale eindrucksvoll eine schier unglaubliche Auswahl an Weltliteratur, prall gefüllten Ordnern mit Falldaten und eine riesige Sammlung Bänder voller Gesetzestexten präsentieren. Wege entstehen dadurch, dass man sie geht. Dieser inspirierende Satz steht auf einer Tafel an der gegenüberliegenden Wand. Es ist nicht der einzige Spruch dieser Art, denn in jedem der drei Geschäftsräume hängen zwei Exemplare mit motivierenden Zitaten großer Menschen. Die zweite Tafel im Raum besagt: Wer kein Ziel hat, kann auch keines erreichen. Die Tafeln sind ein Teil meines Alltags, eine Erinnerung an das, was ich erreichen will. Meine Ziele habe ich immer vor mir, ich weiß, wo ich hinwill.
Zwei weitere Fälle sind heute Morgen reingekommen. Ich wusste, es wird ein guter Tag, als ich die letzten Stufen der Tiefgarage empor trat, die Morgensonne mir ins Gesicht schien und ich die Aufschrift Rechtsanwalt Dr. Thomas Frei neben der Eingangstür laß. Neben all den exquisiten Geschäften, den großen Lofts und den unzähligen Eingängen von Steuerberatern und Versicherungsexperten, fällt der Eingang gar nicht so sehr auf. Dennoch ist die Gegend absolut perfekt und verspricht reiche Kundschaft. Dass ich den Standort einmal übernehmen könnte, hatte ich nicht erwartet, aber zwei Zufälle sorgten dafür. Zum einen war da mein Praktikum, das ich als 19-jähriger in genau diesem Gebäude absolvierte. Der Vorbesitzer, auch ein Anwalt, galt als Legende in der Stadt und irgendwie sah er etwas in mir, das ihm gefiel. Dem ersten vierwöchigen Praktikum folgte noch ein zweites, dieses Mal über drei Monate. Wir verstanden uns prächtig und Jahre später bekam ich einen Anruf, ob ich nicht Interesse hätte, die Location zu übernehmen. Finanziell wäre das für mich allein jedoch nie machbar gewesen, so dass ich auf Hilfe angewiesen war. Der zweite Zufall trat auf, als ich Herrn Russ kennenlernte, einen weiteren Rechtsanwalt, der beim Strandurlaub auf den Malediven zufällig das Hotelzimmer neben mir hatte und sich gleich zweimal in der Tür irrte. So lernten wir uns kennen und schätzen. Ich konnte ihm damals schon ansehen, dass er nicht nur über eine Menge Geld verfügte, sondern auch gern vieles davon ausgab. Das runde Gesicht, die weit geöffneten Augen und die großen Nasenlöcher wiesen darauf hin. Trotzdem fiel mir die Frage, ob er sich vorstellen könnte, die Miete für die Erdgeschosswohnung mit zu bezahlen und gemeinsam zu nutzen, nicht einfach. Im Nachhinein aber bin ich heilfroh, es getan zu haben, zumal er nur zwei Sekunden nachdachte und dann mit breitem Lächeln zusagte. Es sei eine tolle Idee und er wolle schon seit längerer Zeit seinen Standort ändern und näher im Zentrum arbeiten. Was wir dann innerhalb eines halben Jahres aus der Fläche gemacht haben, gleicht einem dieser Makeovers aus den typischen Frauenfilmen, in denen das Mauerblümchen zum Model wird. Das Einzige, was vom ursprünglichen Interior geblieben ist, ist Frau von Gesollte, die Sekretärin des Vermieters, die ich schon aus meiner Zeit als Praktikant kannte. Sie ist so gut, dass sie es schafft, für Herrn Russ und mich alles zu organisieren, ein wahres Talent. Offiziell könnte sie nächstes Jahr in Rente gehen, aber ich hoffe, dass sie noch ein bis zwei Jahre dranhängt.
Der erste Fall, der heute reingekommen ist, betrifft einen Nachbarschaftskleinkrieg, bei dem es in aller erster Linie um Lärmbelästigung geht. Der Kläger behauptet, mein Mandant würde zu unmenschlichen Zeiten Gartenarbeit verrichten und darüber hinaus mit lauter Musik die Nachtruhe stören. Er klagt jedoch alleine, was schon mal ein Zeichen dafür ist, dass mein Mandant nicht allzu sehr gegen gesetzliche Auflagen verstößt. In der Akte zu dem Fall ist ein Bild des Klägers mit dabei, auf dem sein Gesicht älter wirkt als die 52 Jahre, die im Profil stehen. Die dunklen Augen sind offen und rund, die Augenbrauen sehr kurz und gerade. Demzufolge ist er wahrscheinlich ein Mensch, der zu impulsiven Entscheidungen, basierend auf seinen Emotionen, neigt. Die Lippen sind schmal, das Kinn eher dünn, besonders durchsetzungsfähig ist er also auch nicht. Die Stirn ist flach und nicht besonders ausgeprägt, was zum Eindruck passt, dass er geradlinig denkt und im Fall nicht mit Überraschungen seinerseits zu rechnen ist. Strategisch werden wir sehr faktenbasiert