Dass Vincent auch einmal Anwalt werden würde, hätte ich damals nicht erwartet, aber er behielt seinen Plan bei, las weiter, bildete sich ausgiebig und ging schließlich zusammen mit mir auf die gleiche Universität. Ich würde ihn nicht als meinen besten Freund, aber doch als den treuesten Wegbegleiter bezeichnen. Einmal die Woche kommt er entweder in meiner Kanzlei oder ich bei seiner Arbeitsstelle rum und wir quatschen ein wenig über die Neuigkeiten in unserem Leben.
“Hi Vincent! Nein, du störst nicht, ich bin gerade fertig mit meiner Meditation.”, begrüße ich ihn. “Dass du das so durchziehst, jeden Tag, bei jeder Temperatur, ob die Sonne scheint oder es schneit. Ich finde es immer wieder faszinierend. Hast du die tausend endlich geknackt oder dümpelst du immer bei neunhundertirgendwas rum?” Der herausfordernde Tonfall in seiner Stimme hatte einige Zeit gebraucht, bis er zum Vorschein kam, zuvor wirkte er mir gegenüber lange Zeit sehr zurückhaltend und konnte sich nicht wirklich öffnen. Don’t judge a book by it’s cover. Inzwischen kann er wahrlich frech sein, manchmal gar gemein, aber auf eine lustige Art. “Noch nicht ganz, aber die zwölf fehlende Fälle sollten ein Kinderspiel werden, heute Morgen sind wieder zwei reingekommen.” Er zieht symbolisch seinen Hut, “Das klingt doch super! Du bringst dann hoffentlich den Champagner, wenn es soweit ist, vorbei, das muss schließlich gefeiert werden!” Als Kind konnte man Vincent auf keine Feier bekommen, was er aber inzwischen vehement nachzuholen versucht - ob Festivals, Kneipentouren, Clubbesuche, er ist überall dabei und lässt sich durch nichts erschüttern. Manchmal schlägt er dabei über die Strenge, sitzt dann stundenlang am Tresen, halb schlafend, den Kopf zwischen den Armen, nur um urplötzlich aufzuspringen und wie ein Verrückter rumzuhampeln. Langweilig ist es mit ihm nicht, aber ich bin froh, dass er genug andere, jüngere Freunde hat, die all diese Events mit ihm machen. “Das geht klar.”, sage ich.
Ein paar Sekunden vergehen wortlos, dann frage ich, “Wie lautet dein Caserecord der letzten Woche?” Seine Augen drehen sich nach rechts oben, ein Zeichen, das er in seiner Erinnerung kramt. “Drei abgeschlossene Fälle, ein Vergleich, eine Niederlage und ein Sieg. So ähnlich wie es dem Club ergangen ist!”, lacht er. Seine Liebe zum Fußballverein ist lächerlich, er will nie ins Stadion gehen, aber schaut nicht nur jedes Spiel live vor dem Fernseher, sondern auch nochmal in der Zusammenfassung am Abend. “Die Jungs sind derzeit einfach grottenschlecht.”, sage ich, “Hätte ich damals nicht aufgehört, würde ich denen heute den Rang mit links ablaufen. Ich meine die Szene im Derby? Das kann doch nicht wahr sein, wie man aus der Distanz den Ball nicht versenkt. Wenn ich nur die Zeit hätte, zweimal die Woche zu trainieren, da wäre ich Stammspieler bei denen.” Vincent kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. “Du? Wann hattest du das letzte Mal Fußballschuhe an? Gingen wir da nicht noch zur Grundschule?” Um ehrlich zu sein, ich glaube mit Mitte 20. Aber ich war gut und hätte ich tatsächlich mehr Zeit investiert, wer weiß, ob ich es nicht zum Durchbruch geschafft hätte. “Das spielt doch keine Rolle. Was die können, kann ich auch, selbst in meinem Alter. Entweder der Trainer weiß einfach nicht, wie er das Maximum aus seinen Spielern rausholt oder die Spieler sind schlichtweg unfähig.” Die Mannschaft liegt mit zwei Punkten Vorsprung vor den Abstiegsplätzen seit Monaten in einer brenzlichen Situation und von der überschwänglichen Euphorie des Meisterschaftstitels von vor acht Jahren ist nichts mehr übrig. “Ich schätze, es ist der Trainer.”, sagt Vincent, “Er wechselt immer viel zu spät aus und hat kein klares Spielkonzept - mal Kontern, mal Pressing, mal lange Bälle, mal kurze Direktpässe - das ist zu wenig systematisch.” Das nächste Spiel der Mannschaft ist Sonntag, danach kommen nur noch zwei weitere Spiele. “Die steigen bestimmt noch ab, die Flaschen!”, antworte ich, “Der Sieg vorletztes Spiel war ja quasi ein Geschenk vom Schiri. Erst diese völlig überzogene rote Karte, dann der nicht gegebene Elfer und schließlich das nicht gepfiffene Foul kurz vor dem Tor. Da sollte man mal auf Wettbetrug untersuchen!” Vincent hebt den Finger, “Hör mal, der Sieg war sauber rausgespielt. Ja, vielleicht war ein bisschen Glück dabei, aber das gehört eben zum Spiel dazu.” Na klar, ein bisschen Glück, ich sage ja, seine Liebe zum Verein ist lächerlich, der Kerl sieht nur, was er sehen will.
Kapitel 4

Ein paar Stunden zuvor bei der Redaktion des Stadtblatts
Die Augen gen Himmel gerichtet blicke ich die Front des achtstöckigen Bürokomplexes hinauf. Tonnen an Stahlbauträgern wurden mit riesigen Kränen Stockwerk für Stockwerk in luftige Höhe gebracht. Die Bauzeit mit nur zwei Jahren verblüffte nicht nur die Verantwortlichen der Stadt selbst, sondern sorgte auch im Umfeld für Aufmerksamkeit. Im Vorfeld war der Bau nämlich lange umstritten gewesen. Insbesondere die Kirche klagte, da das Gebäude selbiger den Rang als höchstes Bauwerk der Stadt ablief - und es handelt sich bei unserer Kirche nicht um eine Dorfkirche. Die Bevölkerung war gespalten und es kam immer wieder zu heftigen Debatten unter den Verantwortlichen. Einen allgemeinen Bürgerentscheid gab es trotzdem nicht. Unter vorgehaltener Hand wird gemunkelt, dass die Lobbyarbeit der zwei großen IT-Unternehmen im Komplex den größten Einfluss auf die letztlich positive Entscheidung zum Bau hatten. Mit Jahresumsätzen von fast hundertmillionen Euro lässt sich schon einiges bewegen. Im Nachhinein ist der Aufschrei der Bevölkerung nicht wirklich laut geworden, zumal die Arbeitslosigkeit in der Stadt durch den Bau und die zahlreichen Neuanstellungen nach Fertigstellung leicht gesenkt werden konnte. Für die Kirche war es quasi der Anfang vom Ende, was die Skyline betrifft. In den letzten Jahren sind weitere vier ähnlich hohe Gebäude dazu gestoßen, eines davon ein Hotel, das quasi im Handumdrehen die bisherige Hotellandschaft der Stadt gefressen hat und seither eine Art Monopolstellung besitzt. Nur weit außerhalb gibt es noch kleinere Hotels, die mittleren in der Innenstadt sind alle verschwunden. Das nächste große Bauwerk ist schon in Planung und könnte das neue höchste Gebäude werden, wenn es die Zustimmung der regionalen Politik erhält. Da es sich bei den Befürwortern unter anderem wieder um die zwei IT-Unternehmen handelt, deren Wachstum kein Ende zu kennen scheint, stehen die Chancen für den Bau sehr gut.
Noch aber ist meine Arbeitsstätte die Nummer eins in Sachen Höhe. Die auf jeder Etage symmetrischen vier Büroeinheiten sind im Viereck angelegt und auf allen Ebenen identisch. In der Mitte befinden sich vier dazu passende Aufzugschächte, die qualitativ top sind und seit der Inbetriebnahme nie ausgefallen sind. Auf allen Etagen bis auf das Erdgeschoss, wo sich der Empfang, zwei Kantinen und zwölf Tagungsräume befinden, gibt es nur Büros, Wohnfläche wurde nicht geschaffen. 28 Firmen sind demzufolge ansäßig, was die Anreise mit dem Auto wegen der beschränkten Parkmöglichkeiten für viele unausstehlich macht. Busse hingegen halten alle zehn Minuten und fahren in verschiedenste Richtungen.
Von der Bushaltestelle zum Eingang sind es knapp 100m, lang genug, die Fensterfronten zu bewundern. Auf der Westseite sind Fensterputzer aktiv, rund einmal im Monat kommt eine Firma und benötigt knapp eine Woche um alle Stockwerke abzuarbeiten. Gerüste müssen auf- und abgebaut werden, man ist etwas wetterabhängig und das reine Putzen dauert auch seine Zeit. Ganz oben auf dem Gebäude gibt es eine Aussichtsplattform, die einen sensationellen Ausblick über die Stadt gibt. Hin und wieder begebe ich mich in der Mittagspause dort hinauf und genieße die Höhenluft. Wenn die Sonne allerdings zu stark scheint, ist es