Im Auge des Betrachters. Sören Jochim. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sören Jochim
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754143155
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nicht hineingucken. Das letzte Mal, das eine Frau hier übernachtet hat, ist Jahre her, vier oder fünf. Sie sagte, es sei lieblos eingerichtet, so steril und eintönig. Ich habe da kein Auge für, klar ist es einfach gehalten, aber eben auch praktisch. Keine Pflanzen, die man gießen muss und die dann doch eingehen, keine kitschigen Objekte oder Fotos, die einen an längst vergangene Zeiten erinnern und auch kein sonstiger Krimskrams, der nur unnötig Geld kostet.

      An ein Wiedereinschlafen ist nicht zu denken. Nicht unbedingt, weil ich es nicht könnte, eher, weil ich es nicht will. Die reale Welt um 4:55 Uhr ist deutlich friedlicher als die Traumwelt. Kaum eine Menschenseele ist auf den Beinen und erst nach und nach wird der Geräuschpegel des Alltags die Oberhand über die Stille ergreifen. Stille ist etwas Merkwürdiges, kurz aushalten kann man sie ja, aber dann macht sie einen verrückt. Ich überlege das Radio meines Weckers einzuschalten, aber gleich kommen nur die Nachrichten, man kann den Tag auch angenehmer starten. Von den neuesten Dingen in der Welt erfahre ich noch früh genug. Die Beine aus dem Bett geschwungen, richte ich mich langsam auf und strecke mich, hole meine grauen, gefilzten Hausschuhe unter dem Bett hervor, werfe meinen weißen Morgenmantel über und begebe mich durch den kleinen Flur in die Küche. Selbige ist nur knapp 10qm groß und dennoch viel zu überdimensioniert. Allein gekocht hab ich hier noch nie. Aber die Kaffeemaschine ist top und der Wasserkocher hat auch schon Wasser für den ein oder anderen Tee erhitzt. Es ist auch nicht so, dass ich nicht Vorräte da hätte, nur schmeiße ich 80 Prozent davon irgendwann nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums weg. Reinste Geldverschwendung, aber im Notfall will man ja doch was da haben. Zuletzt aussortiert habe ich vor ungefähr zwei Wochen. Eine ganze Klappkiste habe ich entsorgt, mir war nicht einmal bewusst, dass ich überhaupt so viel gekauft hatte. Von Konfitüre über Knäckebrot bis hin zu Dosengemüse war alles dabei, teilweise über ein Jahr abgelaufen. Bei ein paar Wochen schmeiße ich die Sachen nicht gleich weg, aber irgendwann ist die Grenze dann auch erreicht. Eine Zeit lang war ein Kollege regelmäßig nach der Arbeit mit zu mir gekommen, als wir gemeinsam an einem Artikel über den geplanten Autobahnausbau durch den Nachbarort geschrieben haben. Da gingen einige der kleineren Sachen weg, zum Beispiel so asiatische Terrinen und vorgefertigte Pfannkuchen, die man nur in der Pfanne heiß machen muss. Höchstwahrscheinlich habe ich danach einmal zu viel eingekauft und als ich dann wieder komplett allein war, stapelte sich alles im Abstellraum. Wie dem auch sei, jetzt ist wieder Platz und Besuch hat sich für die nächsten zwei Wochen bislang nicht angekündigt.

      Ich öffne die Jalousien in allen Zimmern und blicke schließlich im Wohnzimmer durch das große Klappfenster hinaus. Im letzten Jahr ließ der Vermieter alle Jalousien elektrisch umstellen, davor musste man noch selbst kurbeln, jetzt reicht ein Knopfdruck und in aller Seelenruhe fährt eine Lamelle nach der anderen nach oben. Gegenüber steht quasi das selbe Reihenhaus wie das, in dem ich wohne. Dahinter nochmal und dahinter nochmal. Viermal das genau gleich Bauwerk, einzig unterschieden durch die Menschen, die es bewohnen. Die Fassade wirkt trist, was aber auch nur so wirken kann, weil meine Fenster das letzte Mal vor - ich muss überlegen - wahrscheinlich vor zwei Jahren geputzt wurden. Damals kam meine Mutter zu Besuch und ich wollte keinen völlig schockierenden Eindruck hinterlassen. Ist mir allerdings nur zum Teil gelungen. Das Dach läuft leicht spitz zu, bietet aber keinen Platz für einen Dachboden. Die Wohnungen besitzen alle einen kleinen Balkon. Wenn man sich ganz dünn macht, passen sogar zwei Stühle drauf. Ich selbst verbringe nie Zeit dort, aber andere Parteien haben ihre tatsächlich mit Pflanzen behangen oder sogar einen kleinen Grill dort stehen, quasi eine zweite Küche - nichts für mich.

      Automatisch führt mich mein Weg ins Badezimmer. Zeit für den schlimmsten Moment des Morgens: den Blick in den Spiegel. “Du siehst heute schlimm aus.”, murmele ich vor mich hin. Die Augenränder sind tief, die Augen selbst klein. Die Wangen, früher straff und rund, fallen langsam ein und hängen nur noch schlaff da. Die Haare sind völlig zerzaust, der Bart zu lang. “Kein Wunder, dass du so niemanden findest.” Ich greife zum elektrischen Bartschneider und stutze den Bart zurecht. Danach schnappe ich mir meinen Kamm und versuche, die Haare geschickt über die kahlen Stellen zu verteilen. Geht schon irgendwie, so genau schaut eh keiner hin. Zeit für die nächste Tasse Kaffee. Eine der zwei Birnen der Küchenlampe flackert, die andere ist seit Monaten kaputt. Muss ich unbedingt mal dem Vermieter sagen, der soll sich drum kümmern.

      

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      Die Funktionskleidung saß auch schon mal besser. Wäre ich letzte Woche doch noch zweimal mehr trotz des schlechten Wetters gelaufen. Man wird nicht jünger darf nicht so häufig als Ausrede gelten, die Beine hochzulegen und nichts zu tun. Die neuen Laufschuhe allerdings fühlen sich fantastisch an, leicht und doch gut gepolstert federn sie meine Schritte ab. Der nächste offizielle Marathon ist nur noch knapp zwei Monate weg, bis dahin steht drei- bis viermal die Woche laufen auf dem Programm - immer mindestens einen Halbmarathon und mindestens einmal in der Woche auch die Gesamtstrecke. So schnell wie vor fünf Jahren bin ich nicht mehr, aber bei den letzten drei Rennen war ich immer unter den besten Fünf in meinem Alter. In den Rennen merke ich den Unterschied zu den alltäglichen Läufen. Letztere sind durch hügeliges Terrain und daher bedeutend anstrengender als die flachen Laufstrecken, bei denen es um Medaillen geht. Zwei Silbermedaillen liegen in der Schublade meines Schreibtisches, für Gold hat es nie gereicht. Ich rede natürlich nicht von Olympia, das waren immer ganz andere Dimensionen mit all den Stars aus Afrika.

      Eines der Probleme, wenn man in einer Stadt Marathon laufen möchte, ist der Verkehr. Es dauerte knapp sechs Monate, bis ich eine Strecke gefunden hatte, bei der ich auf keine Ampel warten musste und ohne anzuhalten durchlaufen konnte. Dabei handelt es sich um einen Rundkurs, der entlang der Goethestraße führt, beim Theater links reingeht, vorbei am Zoo und dem kleinen Naturschutzgebiet bis an den Stadtrand. Von dort aus schwenke ich in Richtung Tannenallee, dann wieder links in die kleine Parkanlage beim Sendeturm, vorbei an meiner Arbeitsstätte und über die Fußgängerbrücke zurück wieder Richtung Goethestraße. Beim ganzen Marathon drehe ich zwei von diesen Runden. Heute habe ich die Zeit dafür, schließlich war ich ja früh hoch.

      Als ich am Theater vorbeilaufe, lese ich auf einem der Schilder, dass heute Abend eine Vorführung von einem regionalen Künstler läuft, über den ich auch schon geschrieben habe. Sein Name ist Bernard Veteri und sein neuesten Stück Der Preis der Erkenntnis soll sehr tiefgründig sein. Vielleicht kann ich es mir zu Recherchezwecken demnächst anschauen. Ein paar Minuten später ist die kleine Parkanlage, wie ich erwartet hatte, noch ziemlich verlassen. Lediglich eine ältere Dame mit Hund begegnet mir dort, würdigt mich allerdings keines Blickes. Wer weiß, wo sie mit ihren Gedanken war. An der Fußgängerbrücke, die über insgesamt vier Spuren verläuft, hängt ein großer Banner, der mir ins Auge fällt. Welchen Sinn oder von wem er dort aufgehängt worden ist, erschließt sich mir zwar nicht, aber in großen Buchstaben ist dort zu lesen: Das Wahre vom Bequemen zu unterscheiden, erfordert Mut. Klingt wie aus einem Film, irgendwas, das eine alte, weise Frau zu einer jungen Frau sagen würde.

      Nach Ende meiner ersten Runde kommen mir Seitenstechen, das passiert mir alle paar Wochen immer wieder mal. Gewöhnlich verschwinden die Schmerzen aber nach kurzer Pause schnell und ich kann meinen Lauf fortsetzen. Wäre heute Wettkampf, würde ich selbstverständlich durchlaufen, aber den Zwang brauche ich mir in meinem Alter, jetzt beim normalen Laufen, nicht zu geben. Ich halte deshalb in der Nähe eines Kiosks an, neben dem eine Litfaßsäule steht. Wer liest die Anzeigen darauf überhaupt noch im Zeitalter von Smartphones und Social Media? Mindestens eine Person, ertappe ich mich selbst. Nochmals Werbung für das Theater, eine entlaufene Katze wird vermisst, veraltete Anzeigen von diversen Konzerten und noch so ein seltsamer Spruch, der ohne Grund dort steht: Wie eine Pflanze irgendwann den Weg durch den Asphalt findet, so findet auch der Kern der Wahrheit irgendwann den Weg durch das Geflecht an Lügen. Ob das alles Teil einer großen Kampagne ist? Aber wofür?

      “Die neuen Forschungsergebnisse sind bahnbrechend. Niemand hätte gedacht, dass so etwas möglich ist.”, höre ich einen jungen Mann sagen. Seine Gesprächspartnerin erwidert, “Ich zuallerletzt! Ich bin damit aufgewachsen, dass es nichts, aber auch gar nichts gibt, was in der Lage wäre, die chemische Verbindung zwischen diesen Molekülen aufrechtzuerhalten - es macht ja auch gar keinen Sinn.” Wahrscheinlich sind die zwei Arbeitskollegen, irgendwelche Forscher. Der Mann nickt. “Eigentlich