Am Ende meiner zweiten Runde, die ich ohne jegliche Beschwerden absolviere, halte ich noch kurz beim Bäcker um die Ecke - ja, den gibt es hier tatsächlich noch - und hole mir zwei belegte Brötchen mit Salat, einem saftigen Stück Fleisch und ein paar Gurken und Tomaten. So günstig kann man es ja nicht selber machen, zumal die Zeit für die Zubereitung wirklich besser genutzt werden kann. Ich bezahle bar, da gehöre ich zur aussterbenden Sorte. Die meisten Menschen, die mir in meinem Alltag sonst beim Einkaufen auffallen, sind überzeugte Kartenzahler. Ich mag das Kleingeld aber irgendwie und für meine Laufrunden habe ich immer einen kleinen Bauchbeutel dabei.
Wieder daheim angekommen, packe ich mir eines der Brötchen für die Arbeit ein, das andere verzehre ich zusammen mit einer weiteren Tasse Kaffee. Beim Überfliegen der Zeitung stoße ich auf kein besonders spannendes Thema, aber auf der Arbeit werde ich sicher noch über was stolpern. Eigentlich gibt es ja heutzutage keinen Tag mehr, an dem nicht irgendetwas Weltbewegendes geschieht. Der Kaffee ist schon ein wenig abgekühlt inzwischen, das tut der Wirkung aber keinen Abbruch. Ich fühle mich fit für den Tag und die verkürzte Nacht auf Grund des Alptraums ist fast vergessen. Ich springe noch schnell unter die Dusche, putze die Zähne und schmeiße mich in meinen legeren, dunkelblauen Anzug. Viele der Kollegen tragen inzwischen nur noch Jeans und T-Shirt oder Pullover zur Arbeit, aber ich finde, elegante Kleidung gehört schon zum guten Stil, gerade auch, wenn man mal Interviews führt. Es muss ja nicht piekfein sein, also keine Krawatte oder so, aber ein bisschen Klasse gehört sich schon.
Beim Anziehen meiner Schuhe fällt mir ein, dass ich noch zwei Dokumente mit zur Arbeit nehmen wollte. Ich stapfe ins Arbeitszimmer, blicke auf einen Berg Papiere und zwei große Tafeln mit Zeitungsausschnitten und Pinnadeln, die Verbindungen anzeigen, ganz so wie man es aus guten Filmen kennt. Ich bin altmodisch, was das betrifft. Andere machen inzwischen alles digital und brauchen kaum noch Papier und Tafeln, aber mir ist das zu eingeengt. Ich brauche das Bild möglichst lebensgroß vor mir. Dann funktioniert mein Kopf besser und Zusammenhänge fallen mir auf, die ich sonst nie erkennen würde. Es dauert bestimmt zehn Minuten, bis ich die beiden Dokumente gefunden habe, aber was lange währt, wird gut, heißt es ja so schön. Ich müsste mal wieder etwas mehr Ordnung schaffen, dann ginge es bestimmt schneller. Am liebsten hätte ich eine Sekretärin, die das für mich erledigt, aber wer blickt schon durch das Chaos, was ich tagtäglich fabriziere. Der Gedanke ringt mir ein Lächeln ab.
Auf dem Hausflur ist es laut. Michael und Dennis müssen zur Schule beziehungsweise in den Kindergarten. Die zwei haben beide ein unfassbares Organ, was sie auch mehr als genug in Schreiwettbewerben gegeneinander demonstrieren. Ich frage mich, was in der Erziehung dort falsch läuft. Wahrscheinlich sind die Eltern einfach zu lasch, lassen den Kindern alles durchgehen. Ich sage ja nicht, dass es früher richtig war, die Kinder mit dem Rohrstock zu schlagen, aber in gewisser Weise übertreiben es die meisten Eltern jetzt in der anderen Richtung. Egal was das Kind tut, es ist ein Engel, böse Worte oder Zurechtweisungen sind verpönt. Die Folge ist mangelnder Respekt vor Erwachsenen, Missachtung von einfachsten Verhaltensregeln und fehlendes Gespür dafür, wann eine Grenze erreicht ist. Manchmal mache ich mir echte Sorgen über die zukünftigen Erwachsenen und dabei bekleckert sich meine Generation schon nicht mit Ruhm.
Ich öffne die Wohnungstür und ein kreischendes “Ich will meine Jacke aber heute nicht anziehen. Es ist viel zu heiß!”, peitscht mir entgegen. “Tag.”, sage ich kurz und knapp. “Guten Morgen Herr Truggenbrot, welch schöner Tag heute, wie geht es Ihnen?”, fragt Frau Dinsel, ich glaube Jennifer ist ihr Vorname. “Den Umständen entsprechend.”, antwortete ich, ohne genauer auf selbige einzugehen. Nach kurzem Stutzen sagt sie: “Die Kinder haben schlecht geschlafen die Nacht und sind etwas aufgebracht. Ich bitte das zu entschuldigen, sie können hin und wieder ganz schön Krach machen.” Hin und wieder ist gut, denke ich mir, bis 21 Uhr ist täglich nicht an ruhiges Arbeiten von zu Hause aus zu denken. Immer wieder schreien die Kinder, immer wieder gibt es Gemecker und immer wieder knallen Türen. Erst wenn die Gören im Bett sind, wird es ruhiger. “Ja.”, ist alles, was ich hervorbringe und beginne, die Treppe hinab zu steigen. Frau Dinsel wünscht mir noch einen schönen Tag. Kurz vor der Haustür angekommen, höre ich eines der Kinder fragen: “Mama, wieso ist der Mann so seltsam und redet so wenig?” Ich bilde mir ein, einen Seufzer zu hören, “Ach Dennis, wahrscheinlich ist er nur sehr im Stress wegen der Arbeit. Du weißt doch, er ist Journalist, das ist ein anstrengender Job.” Damit hat es nicht so viel zu tun, genervt von deinem Lärm würde es besser treffen.
Ich trete hinaus ins Freie und lege die knapp 200m zur Bushaltestelle zurück. Ich besitze zwar seit meinem zwanzigsten Lebensjahr einen Führerschein, aber ein eigenes Auto besitze ich nicht. Die wichtigsten Orte sind zu Fuß oder mit dem Bus erreichbar. Das war auch schon als Kind immer so, weshalb mir die Vorstellung eines eigenen Autos immer irgendwie befremdlich vorkam. Mein Onkel drängte mich damals, den Führerschein zu machen, wofür ich ihm unterm Strich auch dankbar bin. Es gab vereinzelte Momente, in denen ich ihn gut gebrauchen konnte. Zuletzt fahre ich aber lediglich noch von der Arbeit aus, wenn meine Recherche verlangt in kleine, abgelegenere Orte zu reisen. Privat nehme ich mir im Zweifel einfach ein Taxi. Zur Arbeitsstelle sind es von hier aus lediglich vier Bushaltestellen, die Busse sind meist noch einigermaßen leer und ich finde in der Regel noch einen Sitzplatz. Meistens stehe ich allerdings trotzdem, für die paar Stationen lohnt es sich ja nicht, sich extra hinzusetzen. So alt fühle ich mich dann an den meisten Tagen doch noch nicht.
An der Bushaltestelle sehe ich schon wieder eines dieser Plakate. Dieses Mal steht drauf: Man will nur wissen, was einem hilft, das eigene Weltbild zu bestätigen. Mit dem Spruch kann ich wenig anfangen. Für meine Recherchen will ich allerlei Dinge erfahren, als Journalist muss man schließlich nachhaken und der Wahrheit auf den Grund kommen. Da kann man sich nicht nur hinstellen und sich die Kirschen raussuchen. Wie sollte das denn funktionieren? Man muss schon immer versuchen, möglichst viele Seiten zu beleuchten, um ein umfassendes Bild zu bekommen. Wenn ich Nachforschungen anstelle, reichen sogar meine zwei großen Tafeln in manchen Fällen nicht aus, aber zum Glück habe ich noch zwei weitere im Keller stehen. Wenn es wirklich eng wird, hole ich eine oder sogar beide davon auch noch hoch. Aber gut, nicht jeder Mensch ist journalistisch ausgebildet und weiß diese Dinge. Kann schon sein, dass der Spruch für andere zutrifft.
Ich bin an diesem Morgen der einzige Gast, der auf den Bus wartet. Drei Minuten habe ich noch Zeit und blicke mich um. Die Straßen sind normal gefüllt, die wenigen Fußgänger sind mit geneigtem Kopf auf ihre Handys fixiert und sehen sich wahrscheinlich die aktuellen Aktionskurse an. Oder sie surfen in den sozialen Medien. Da fällt mir ein, dass ich doch auch noch was nachschauen wollte. Ich zücke mein Handy, aktiviere mit meinem Daumen den Zugang und prüfe die neusten Nachrichten. Sieben sind es heute Morgen. Sechs davon brauche ich nach Kenntnisnahme der Absender gar nicht erst zu lesen und die siebte ist von meiner Mutter. Aus Pflichtgefühl öffne ich sie. Sie würde sich freuen, wenn ich mich mal wieder bei ihr melde. Ihr Auto müsste mal wieder in die Reparatur, ob ich nicht Zeit hätte, mal vorbeizuschauen. Ich antworte kurz und knapp, dass es vielleicht am Wochenende klappen könnte. Lust habe ich ja keine.
Als ich mit 24 Jahren endlich ausgezogen bin, hatte ich die Schnauze komplett voll von meiner Mutter. Dieses ewige Genörgel war nicht mehr auszuhalten. Die ersten drei Jahre danach habe ich sie nicht einmal besucht. Nicht mal zu Weihnachten haben wir uns gesehen. Sie war zwar nicht besonders glücklich darüber,