Im Auge des Betrachters. Sören Jochim. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sören Jochim
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754143155
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den Anblick heute Morgen im Spiegel denke, würde ich das Foto, das Tina zu Gesicht bekommen hatte, für absoluten Fake mit ganz viel Bearbeitung und Zeitversatz von vielleicht zehn Jahren halten. Tina trug eine runde Brille, hatte die dunklen Haare offen, ungefähr schulterlang und wippte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, als ich am Café eintraf. Auf ihrem roten Pulli stand in großen Buchstaben Tierfreund, ein erstes Statement. Wir hatten nie Haustiere als ich klein war, vielleicht habe ich auch deshalb nie verspürt, mir ein eigenes anzuschaffen. Ehrlicherweise hätte ich aber auch gar keine Zeit für ein Tier, die Arbeit macht sich schließlich nicht von selbst und ganz fest sind die Arbeitszeiten ja ohnehin nicht. Da gibt es sicher bessere Herrchen, bei denen ein Hund - wenn überhaupt, dann käme ein Hund in Frage - aufgehoben wäre.

      “Bist du Tina?”, hatte ich trotz der eindeutigen Zeichen gefragt. Sie nickte und sah dem Foto, das ich bekommen hatte, gar nicht so unähnlich. Sie wirkte lediglich ein ganz kleines bisschen rundlicher und die offenen Haare ließen sie jünger wirken. “Hi, äh, ich bin Rolf. Schön dich kennenzulernen.” Ich streckte ihr die Hand entgegen. “Hallo Rolf, gleichfalls, ein bisschen was habe ich ja schon über dich gehört.” Sie lächelte und schüttelte mir dabei kurz die Hand. “Sollen wir uns draußen einen Tisch nehmen, drinnen ist es immer so laut.”, schlug ich vor. “Klar, kein Problem.”, antwortete sie und zeigte auf einen freien Tisch: “Den da vielleicht?” Ich nickte und wir setzten uns. Ich schaute in die Getränkekarte, suchte mir ein alkoholfreies Radler aus und blickte zu ihr. Sie schien etwas verstört, sagte aber nichts. Ich hielt ihr die Karte hin und sie suchte sich selbst etwas. Worüber sollte ich bloß mit ihr sprechen? Das ist immer wieder mein Problem bei diesen Dates, ich will ja nicht die ganze Zeit von meiner Arbeit reden und aktuelle Politik besprechen, soll beim ersten Date nicht so gut ankommen. Da würde ich mich aber wenigstens auskennen. “Ich nehme eine Rhabarberschorle.”, verkündete sie stolz. Das habe ich mir auch nur merken können, weil ich Rhabarber absolut unausstehlich finde. “Gut. Was machst du beruflich?” Dem irritierten Ausdruck in ihrem Gesicht entnehme ich, dass die Frage wohl zu früh kam, dennoch antwortet sie, “Ich bin Tierpflegerin im Tierheim in der Nordstraße. Kümmere mich um streunende Katzen und Hunde und päppele sie auf.” Das Tierheim kenne ich nicht, die Nordstraße sagt mir etwas, aber ganz genau einordnen kann ich sie nicht. “Ah, okay, du magst Tiere wohl? Ich arbeite als Journalist beim Stadtblatt. Du weißt schon, in dem großen Hochhaus mit den ganzen Firmen.” Sie nickt. “Ja, klar, weiß ich von Manuela, sie arbeitet ja auch dort. Wie gefällt dir die Arbeit? Und ja, ich mag Tiere über alles, die sind so knuffig und treu. Ich habe selbst einen Hund, eine Katze, zwei Kanarienvögel und ein Aquarium mit diesen Guppies, kennst du die? Herrliche Geschöpfe.” Manuela hieß die Kollegin aus der Sportabteilung, richtig, mir war der Name entfallen. “Ja, schon mal davon gehört.” Der Kellner kommt und nimmt unsere Bestellung auf. Es blieb bei dem einen Getränk. Wir haben dann irgendwie den Faden verloren und hatten uns fortan nicht mehr viel zu sagen. Sie schien sich auch gar nicht für mich zu interessieren.

      “Hätte besser laufen können.”, antworte ich Richard, nachdem er sich geräuspert hatte und mir auffiel, dass ich in Gedanken versunken war. “Also war jetzt eher ein Flop. Wir hatten uns nichts zu sagen und sie kannte kein anderes Thema als ihre Haustiere. Ich bin ja jetzt nicht gegen Tiere, aber”, beginne ich. “Aber was?”, fragt Richard. “Ich weiß auch nicht, hat einfach nicht gefunkt.” Mein Chef zieht die Mundwinkel nach unten und nickt. “Es funkt ja auch nicht immer gleich beim ersten Mal. Du wirst schon noch jemanden finden, bist schließlich ein netter Kerl, der eine Menge auf dem Kasten hat. Trefft ihr euch trotzdem nochmal?” Nochmal? Nein, danke. Ich kann meine Zeit besser vertreiben als jemanden anzuschweigen. “Ich denke nicht. Wahrscheinlich wird das nichts mehr mit der Ehe und den Kindern. Das Gute ist, dass mich dann niemand von der Arbeit ablenken kann. Außerdem halten Beziehungen ja ohnehin nicht, die Statistik über die Scheidungsraten lügt ja nicht und von Jahr zu Jahr werden es mehr.”, füge ich hinzu. “Ach Rolf, lass den Kopf nicht hängen, zu jedem Topf gibt es auch einen Deckel. Aber wenn du die Arbeit schon ansprichst. Deadline für den ersten Entwurf ist in 48 Stunden. Wir wollen hier schnell handeln und dann bei der nächsten größeren Teamsitzung alles Weitere besprechen.” 48 Stunden ist nicht viel Zeit für ein Thema, von dem man gar keine Ahnung hat. Irgendwas scheint an diesem Bericht anders zu sein. “Puh, das wird aber eng. Ich schaue mal, was sich machen lässt.” Richard setzt wieder sein ernstes Gesicht auf. “Rolf, der Artikel wird wichtig. Ich setze dich ran, weil du der Beste für den Job bist. Mal schauen reicht da nicht. Verstehst du?” Ich sage ja, irgendwas ist anders, so kenne ich Richard gar nicht. Es gehört sich aber nicht, seinem Chef länger zu widersprechen. Ich seufze und stimme zu. “Ich bekomme das hin. Dann mache ich mich auch mal an die Arbeit. Hoffentlich kommt Tanja nicht allzu spät heute.” Richard erläutert, “Tanja ist beim Arzt, hab ich doch vorhin gesagt. Sie wird später kommen und dir heute nicht so viel helfen können. Ich suche gleich nochmal nach dem Dokument und lasse es dir rein reichen.” Beim Arzt, ausgerechnet heute. “Ah, okay.” Ich stehe auf, drehe mich um und verlasse das Büro.

      Zurück in meinem Büro angekommen, fahre ich die elektrischen Jalousien zu, die Sonne blendet aus diesem Winkel für die nächste Stunde. Ich denke über das Gespräch mit Richard nach, vor allem die Art und Weise wie er das mit der Vergewaltigung ausgedrückt hat und wie der Standpunkt der Zeitung ist. Es gibt Dinge, die können wir nicht schönreden, hatte er gesagt. Eine komische Aussage, ich bin gespannt, was die Recherchen über diesen Johnny C. und seine Band ergeben werden. Richard lässt mir bei meinen Artikeln sonst sehr viel Freiheiten, an einen Hinweis auf die konservative Haltung unserer Zeitung kann ich mich nicht erinnern. Und es gab auch schon Artikel, in denen ich ziemlichen Schwachsinn fabriziert habe. Allen voran der Text über die geplante Abschaffung des Studententickets, was sich als völlige Ente erwies. Damals war ich natürlich noch recht unbeholfen und zu meiner Verteidigung hat das Zwei-Quellen-Prinzip in dem Fall versagt. Beide Informanten hatten sich über Umwege auf dieselbe Ausgangsperson bezogen, was ich mit etwas mehr Zeit wohl auch herausgefunden hätte. Leider wollte ich mir diese Zeit selbst nicht geben und unbedingt eine echte Schlagzeile produzieren. Richard hat mich damals geschützt und sich hinter meinen Artikel gestellt, das kam nicht überall gut an. So wie heute habe ich ihn noch nicht erlebt. Mach deutlich, dass wir uns gegen jede Art der Vergewaltigung richten. Seine Informationen müssen verdammt gut sein, vielleicht kennt er das Opfer selbst. Das würde natürlich sein Verhalten erklären. Mal sehen, wann Tanja kommt, sie ist in den Anfangsrecherchen deutlich schneller als ich und mit dem Computer kommt sie auch besser zurecht. Ich fange am besten trotzdem schon mal an. Wo ist nochmal der Browser… Da. Richard, wieso kannst du mir nicht mehr verraten? Naja, er wird schon wissen, was das Beste für die Zeitung ist, das hat er oft genug bewiesen.

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      Eine knappe Stunde später bin ich nicht viel schlauer als vorher und Tanja ist auch immer noch nicht wieder da. Das Telefon klingelt, ich hebe ab. “Hallo Herr Truggenbrot, könnten Sie nochmal kurz zum Chef rein? Er möchte Sie noch einmal sprechen.” Natürlich. Wahrscheinlich hat er das Dokument gefunden, nachdem er vorhin gesucht hatte und möchte mir noch etwas persönlich dazu sagen. In Richards Büro angekommen, fällt mein Blick auf einen der drei Zeitungsausschnitte, die eingerahmt in randlosen Bilderrahmen an der Wand hängen. Serienkiller Matthias S. endlich gestoppt - Entscheidende Hinweise durch Bevölkerung, ist dort in der Überschrift zu lesen. Unsere Zeitung hatte entschieden zur Aufklärung beigetragen, da wir den Kontakt zur Zeugin herstellen konnten. Das ist auch zwischen den Zeilen zu lesen, aber offensichtlicher wollte es Richard damals nicht haben. Er sagte, ihm sei genug, dass er wisse, wie sehr wir zur Aufklärung beigetragen haben und dass wir die Welt zu einem etwas besseren Ort gemacht hätten. “Danke, dass du nochmal reingekommen bist.”, eröffnet Richard das Gespräch. “Gar kein Problem, die fünfzig Schritte schaffe ich grad noch.”, entgegne ich. Er lächelt kurz. “Ich finde das Papier einfach nicht, wahrscheinlich liegt es bei mir zu Hause, dann bringe ich es dir morgen mit. Ich habe es wohl in der Hektik heute vergessen. Du musst also die nächsten Stunden ohne vorgefertigte Planung und Kontakte vorankommen.” Das ist nicht das, was ich hören wollte. “Oh Mann, ich hab eben schon eine Stunde gesucht und bin kaum schlauer geworden. Tanja ist immer noch nicht im Haus. Ich weiß nicht, ob das mit