Ich habe es geliebt - von dort an wusste ich, dass mein Weg irgendwann etwas mit dem Auftritt vor anderen Personen zu tun haben sollte. Es war ein tolles Erlebnis. Dass ich einmal als Rapper auf der Bühne vor mehreren tausend Leuten auftreten würde, hätte ich damals aber für ziemlich unmöglich gehalten - aber ich hätte auch nicht gewusst, was einen Rapper auszeichnet. Musikinstrumente haben mich jedenfalls früher nicht wahnsinnig angezogen, Musik zu hören jedoch schon. Zumindest bestätigen mir das meine Eltern immer wieder, wenn sie mir Geschichten von früher erzählen, als ich noch zu klein war, um mich daran zu erinnern. Einmal soll ich bei einem Geburtstag von einem Freund auf den Tisch geklettert sein und dort getanzt haben - wie gut, dass es zu der Zeit noch nicht üblich war, alles auf Video festzuhalten. Auch verwunderlich, wenn ich so darüber nachdenke, dass ich davor scheinbar kein Lampenfieber hatte. Ist wahrscheinlich die Unbekümmertheit in dem Alter.
Die Scheinwerfer, die auf die mittlere Bühne gerichtet sind, leuchten so grell, dass sie einen Großteil der Wahrnehmung der Umgebung einschränken. Immerhin die Reihe der blauen Dixi-Toiletten, die von zahlreichen kleinen Schlangen bedürfnisreicher Menschen belauert werden, sind noch zu erkennen. Der überwiegende Teil der Zuschauer wartet allerdings gespannt auf den ersten Beat. Das Mikrofon liegt fest in meiner Hand, die Kapuze ist tief ins Gesicht gezogen - eines meiner Markenzeichen. In der ersten Reihe steht eine vierköpfige Gruppe leicht bekleideter Frauen. Sie sind Anfang 30, würde ich schätzen. Ihre Augen sind groß und funkeln, als ich die Hand hebe und ihnen zuwinke. Etwas weiter rechts hat ein Vater seinen kleinen Sohn auf den Schultern. Ob die Lautstärke für den Jungen nicht zu laut ist? Manche Menschen schrecken vor nichts für ihr eigenes Vergnügen zurück. Aber der Vater ist auch wegen mir gekommen, von daher werde ich ihm und seinem Sohn eine tolle Show bieten. Der Beat setzt ein. Jubel schallt mir entgegen. Steven am Schlagzeug hat ein breites Grinsen im Gesicht und mein Gitarrist Manuel lässt das erste Riff leichthändig über die Saiten gleiten. Beide sind absolut hervorragend auf ihrem Gebiet. Fünf, sechs, sieben, acht.
“Wenn ich Morgens aufstehe, wenn ich dann voll drauf gehe, mich kurz wieder aufrege, dann doch hundert Pro gebe, werden all die Taten, die mich den Tag erwarten, nacheinander starten, dann kann der Schmerz noch warten.” Der Song Schmerz beschreibt ein dunkles, wohlmöglich das dunkelste Kapitel meines bisherigen Lebens. Er handelt von dem immer wiederkehrenden Schmerz des Verlustes eines geliebten Menschen - in meinem Fall meines besten Freundes Gregors, den ich kannte, seitdem ich vier Jahre alt war. Anderthalb Jahre ist das her und seitdem schwebt eine dunkle Wolke über vielen Gedanken in meinem Kopf. Doch der musikalische Erfolg des vergangenen Jahres, die Liebe der Fans zu den Texten, nehmen die Trauer immer wieder ein wenig. Es ist ein Balanceakt, jeden Tag aufs Neue. “Voller Schmerz, berührst mein Herz, auch heute noch, man wärst du doch, hier bei mir, dann würd ich dir, sagen, was noch offen ist, seit ich dich so krass vermiss.” Man, wie viel haben wir zusammen gemacht, über Jahrzehnte hinweg. So traurig der Song für mich auch ist, so sehr erinnert er mich auch an die genialen Zeiten, die wir hatten. Die Streiche, die wir unseren Eltern gespielt haben, die Ausflüge, die wir mit den zwei kleinen Chiwawas von Gregor gemacht haben und nicht zu vergessen, den Urlaub, bei dem wir beide unseren ersten Kuss mit den schwarzhaarigen Zwillingsschwestern hatten. Was haben wir nicht alles erlebt. “All das ist reine Spekulation, selbst gemachte Manipulation, keine Aktion sondern Reaktion, und was bleibt, das ist der Hohn, ist reiner Schmerz - du weißt schon…”
Ein Meer aus Händen hängt in der Luft, der Schlussakkord klingt aus und Getöse der Menge durchhallt die plötzliche Stille der Lautsprecher. Die Scheinwerfer gehen für einen Moment aus. Beim Anblick der Menge fällt mir die fast durchweg dunkle Kleidung auf. Anhänger von Rap sind nicht die farbenfrohesten Menschen, wie es aussieht. Immerhin bringen die roten und grünen Bandanas einiger Fans sowie die Goldketten ein wenig Abwechslung ins Bild. Ansonsten kommt die meiste Farbe von der Haut der Frauen in der Menge - eine reizende Blondine mit vollen roten Lippen sticht dabei besonders hervor. Sie steht zwar erst irgendwo in Reihe zehn, ist aber ein wahrer Blickfang. Sie legt wert auf ihren Körper, das kann man sofort erkennen. Sehr sympathisch. Die Scheinwerfer gehen wieder an, aber nicht die vorderen, sondern dieses Mal die oberen. An Lichteffekten wird beim Festival hier nicht gespart. Steven ist wieder voll dabei, irgendwie bewundernswert für jemanden, der nicht im direkten Rampenlicht steht.
Gegen den Rest der Welt handelt von einem Einzelgänger, der ein ums andere Mal von seinen ehemaligen Freunden verraten wurde. Mit jedem Schicksalsschlag zieht er sich weiter zurück, isoliert sich und sieht sich der Welt allein gegenüber. “Bist mir in den Rücken gefallen, Julius Caesar fühlte ähnlich, innerlich möchte ich die Fäuste Ballen, hältst du mich für dämlich?” Diese Rolle des unterdrückten Helden ist schon oft verfilmt worden, aber in der Realität sind diese Menschen meist gar keine Helden, sondern Opfer - Opfer des Systems, Opfer von Vorurteilen oder Opfer ihrer Umgebung. Meist beginnt das schon in ganz frühen Jahren. Mein Blick schweift auf den kleinen Jungen in der ersten Reihe. Was für eine Zukunft ihn wohl erwartet? Wird er auch mal Opfer sein oder steht er auf der Seite derjenigen, die andere zu Opfern machen? “Habt gehetzt, habt gemobbt, habt mich zum Rückzug gezwungen, habt mein’ Elan gestoppt, hab nur noch mit mir gerungen.” Ist man erst mal in dieser Abwärtsspirale drin, kann man dagegen kaum noch etwas tun. Früher haben die Menschen Krieg erlebt und das muss grausam gewesen sein, aber immerhin hatten sie einen Feind, der nicht sie selbst war. Doch heute? So viele Menschen leiden und sind unzufrieden mit sich selbst, sehen sich selbst als den Gegner, den es zu besiegen gibt. “Ich bin allein, und das ist gut so, was ihr mir gebt, das brauch ich nicht, ich bin allein, und das ist gut so, eure Wörter haben kein Gewicht. Ich bin fürs Leben, aber ich bin kein Held, ich bin einfach nur, gegen den Rest der Welt.”
Wie viele von den applaudieren Fans sich wohl mit diesem Song identifizieren können? Die meisten sind wohl in Gruppen da, aber einige sicher auch allein oder als fünftes Rad am Wagen. Nach dem Tod von Gregor habe ich mich beim Ausgehen mit neuen Freunden häufig so gefühlt. Natürlich bin ich berühmt und gut aussehend. Da kommt man schnell in Kontakt mit neuen Menschen, aber was nützt das, wenn alles oberflächlich bleibt? Die anderen haben gemeinsame Vergangenheit, gemeinsame Jokes, gemeinsame Sprache. Was bin ich für sie? Ein Promi, mit dem man sich ablichten kann. Hier ein Selfie, da eine Party im VIP-Bereich, aber sonst? Wenigstens bei den Frauen gibt es Tieferes. Die geben sich schließlich nicht nur mit einem Foto zufrieden, sondern nehmen gerne mehr und zu gutem Sex habe ich noch nie nein gesagt.
Erneut gehen die Scheinwerfer aus, die Menge tobt und kopiert meine Pose mit nach unten geneigtem Kopf und nach oben ausgestreckter Faust. Das Adrenalin pumpt - gleich werden wir sehen, wie gut unser neuester Hit ankommt. Die Polizisten wirken etwas aktiver und beunruhigter, befürchten vielleicht, dass die Menge durch die Songs aggressiver wird. Aber der Veranstalter schenkt in den vier großen, mobilen Getränkewagen keine hochprozentigen Sachen aus. Ein bisschen Bier gibt es und ein wenig Wein, zu dem aber wenn nur die Frauen greifen. Es gibt sogar ein Gehwegkonzept dafür, so dass die Menschen nicht an den Wagen verharren, sondern weiter wandern müssen. Bis sie beim nächsten Wagen ankommen, vergeht schon einiges an Zeit in den Warteschlangen - ein gutes Konzept um komplett Besoffene zu verhindern, aber dass es nicht zu völliger Orientierungslosigkeit bei den Gästen führt, ist schon verblüffend. Liegt bestimmt an den vielen Ordnern in ihren schicken gelben Westen.
“Willst du hoch hinaus, fahr die Ellenbogen aus, bring dich in Position, denn nur dann stimmt auch der Lohn, achte auf deine Gegner, handle jetzt und nicht später, denn wenn du erst mal oben bist, läuft’s von alleine ganz gewiss.” Es ist schon merkwürdig, dass wir Menschen als soziale Wesen bezeichnet werden und uns gegenseitig so viel Unsoziales antun. Die paar reichsten Menschen haben kaum Probleme noch mehr Geld anzuhäufen, weil sie sich alle Voraussetzungen dafür einfach kaufen können. Die Armen hingegen können die besten Ideen haben, aber sind nicht in der Lage diese umzusetzen, weil ihnen der Start fehlt. Entweder besitzen sie das Geld nicht oder sie haben schlichtweg zu wenig Zeit, sich neu zu orientieren, weil sie mit dem Überleben selbst beschäftigt sind. Zur Elite zu gehören, war schon immer erstrebenswert, um ein gutes Leben zu führen. Ich bin froh, dass ich dazu gehöre. Ich brauche mir keine Gedanken darüber machen, wie es ist, nicht zu wissen, wo die Miete für den nächsten Monat herkommen soll, wann mein Kind mal mit auf Klassenfahrt fahren kann oder ob es morgen