Geschichten des Windes. Claudia Mathis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Mathis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753197715
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„Bitte, Arthur! Wir wollten doch keine Geheimnisse voreinander haben.“

      „Wer sagt das? Nur weil dein Leben langweilig ist, muss ich dir alles erzählen?“

      Das war gemein. Arthur bemerkte zwar, dass er etwas Ungerechtes gesagt hatte, wollte aber nicht nachgeben.

      „Mein Leben soll langweilig sein? Wenn du wüsstest!“, entgegnete Sean entrüstet. „Wenn du mir nichts über deinen blöden Stein sagen willst, bitte.“

      Sean schaute beleidigt aus dem Fenster.

      „Er ist nicht blöd!“, sagte Arthur schnippisch und machte sich abrupt daran, nach Hause zu gehen.

      Sean wollte ihn daran hindern, ließ es dann jedoch resigniert bleiben und schaute seinem Freund traurig zu, wie dieser seinen Mantel anzog und zur Tür ging. Arthur hielt kurz inne, mit der Klinke in der Hand, doch dann schlüpfte er ohne einen Gruß oder Blick hinaus.

      Dies war das erste Mal, dass sich Sean und Arthur richtig gestritten hatten. Stur, wie sie beide waren, herrschte die nächste Zeit Funkstille. Sean fragte sich ständig, warum Arthur so eigenartig reagiert hatte. Um nicht an Arthur denken zu müssen, las Sean weiter fleißig Bücher und flüchtete in seine Fantasiewelt.

      Zu seiner großen Freude fand er Texte zur Geschichte von Dunnottar Castle. Zu gerne hätte er sie seinem Freund gezeigt oder vorgelesen, aber sein Stolz ließ nicht zu, dass er den ersten Schritt auf Arthur zuging. Also studierte Sean die Schriften allein.

      Er fand heraus, dass die Burg im Jahr 1296 vom englischen König Edward I. eingenommen wurde. Ein Jahr später eroberte sie der schottische Nationalheld William Wallace zurück. Danach kam es auf der Burg immer wieder zum Herrschaftswechsel zwischen Engländern und Schotten, bis nach der Schlacht von Bannockburn im Jahr 1314 durch einen weiteren schottischen Helden - Robert the Bruce - endlich Ruhe einkehrte, da er als Robert I. schottischer König wurde.

      Sean war überrascht, dass im 16. Jahrhundert die schottischen Reichsinsignien auf Dunnottar Castle aufbewahrt wurden, also das Schwert, das Zepter und die Krone des Königs. So wichtig war sein Zuhause! Außerdem konnte das Castle zwei Besuche schottischer Könige verzeichnen. 1562 hielt sich Königin Maria Stuart auf Dunnottar Castle auf und 1580 König James I.

      1651 herrschte Bürgerkrieg auf den Britischen Inseln und der Feldherr des Parlamentsheeres Oliver Cromwell belagerte die Burg mit seinen Truppen. Erst nach acht Monaten konnte sie eingenommen werden. Doch die Reichsinsignien wurden zur Freude Seans gerettet, da eine mutige Pfarrersfrau sie aus der Burg geschmuggelt und unter einer nahen Kirche vergraben hatte.

      Sean staunte. Wie gerne hätte er das alles Arthur erzählt. Sean vermisste ihn schmerzlich.

      Plötzlich fiel ihm ein, dass die Belagerung noch nicht so lange her gewesen war, erst 39 Jahre. Aufgeregt räumte er die Bücher auf und eilte zu den Gemächern seiner Großmutter. Diese war jetzt schon seit einiger Zeit im Palais untergebracht, damit sich die Familie besser um sie kümmern konnte. Kendra hatte das stolze Alter von 71 Jahren erreicht und im letzten halben Jahr körperlich deutlich abgebaut. Seans Eltern wollten ihrem Sohn zwar verheimlichen, dass sie sich Sorgen um sie machten, aber Sean merkte es ihnen trotzdem an.

      Kendras geistige Fähigkeiten hatten allerdings noch kein bisschen nachgelassen. Um seiner Großmutter Freude und Abwechslung zu bereiten, besuchte Sean sie nun häufig und sie unterhielten sich viel. Kendra erzählte ihrem Enkel Geschichten aus der Vergangenheit und andere Dinge, die sie beschäftigten und Sean ließ sie an den Dingen teilhaben, die er erlebte und vor allem las.

      Sean trat näher an Kendras Bett und begrüßte sie. Die blasse alte Frau lag zusammengesunken auf ihrem Lager. Dann nahm er ihre Hand und sagte:

      „Guten Tag, liebe Großmutter. Wie geht es Euch?“

      „Ach, es geht, mein Junge. Schön, dass du mich besuchst.“

      Sean kam direkt zur Sache. „Ich habe in einem Buch die Aufzeichnung gefunden, dass Dunnottar Castle vor 39 Jahren belagert wurde. Könnt Ihr mir etwas davon erzählen?“

      Seans Augen glänzten vor Aufregung und er schaute Kendra erwartungsvoll an.

      „Ja, mein Junge, ich erinnere mich, sehr lebhaft sogar. Das war eine schlimme Zeit damals, und ich denke nicht gern daran.“

      „Bitte, liebe Großmutter! Ihr müsst es mir erzählen!“

      Kendra schaute skeptisch. „Bist du denn schon alt genug für solche Geschichten, mein Kind?“

      Sean nickte aufgeregt. „Ich bin schon elf und habe Einiges über Schlachten und Kriege gelesen. Ich fürchte mich nicht.“

      Kendra lächelte. „Gut, mein Junge. Dann will ich es dir erzählen, damit die Geschichte unserer Familie nicht verloren geht.“

      Die alte Frau rückte sich in ihrem Bett zurecht und schaute nachdenklich in die Ferne, wobei ihre Stirn in Falten lag.

      „Es begann damit, dass Mitte November im Jahre 1651 plötzlich die Glocke der Burgkapelle läutete. Da sonst nur am Sonntag die Glocke erklang, wusste jeder, dass es sich um ein Notsignal handeln musste. In den letzten Monaten kamen immer wieder Nachrichten von Kämpfen zwischen den Engländern unter dem Parlamentarier Oliver Cromwell und den königstreuen Schotten, so dass die Bewohner der Burg bereits Vorräte an Proviant und Munition einlagerten, falls sie von der Umgebung abgeschnitten werden sollten. Die Leute auf der Burg befanden sich in Alarmbereitschaft und waren auf das Schlimmste gefasst.

      Als ich die Glocke vernahm, wusste ich, was zu tun war. Schon als ich im Jahre 1636 auf das Castle kam, wurde mir erklärt, dass sich alle bei einem Notfall in der Kapelle zu versammeln hatten. Also schickte ich sofort nach meinen Kindern Alistair, deinem Vater, und Ennis, deinem Onkel und wir eilten in die Kapelle. Dein Großvater Aidan musste sich bei seinem Vater Hamish einfinden, dem damaligen Laird von Dunnottar Castle, um ihm zu helfen, die Bedrohung oder was es auch immer war, abzuwenden. Als wir in der Kapelle ankamen, hatte sich schon der Großteil der Burgbewohner versammelt.“

      „Wie alt war mein Vater damals?“

      „Alistair hatte dein Alter und Ennis war acht Jahre alt, soweit ich weiß.“

      „Und die anderen aus unserer Familie? Wer war noch da?“

      „Dein Urgroßvater Hamish hatte schon ein stolzes Alter erreicht, ich denke, so Mitte 60. Er war noch sehr rüstig, kann ich mich erinnern. Seine Frau Ivera hingegen, die ein ähnliches Alter hatte, war sehr schwach und wurde auf einer Trage in die Kapelle gebracht. Die Brüder deines Großvaters waren etwas älter als ich, so um die 40 Jahre.“

      „Wie hießen diese Brüder? Hatten sie Familie?“, wollte Sean wissen.

      „Du willst es ganz genau wissen, mein Junge.“ Kendra lächelte. „Das waren Gawyn, der ältere, mit seiner Frau Cailin. Sie hatten vier Kinder. Und der zweite, Dusten mit Sinann und drei Kindern. Dein Großvater war der Jüngste“, erklärte Kendra.

      „Großmutter! Ihr habt ein fabelhaftes Gedächtnis! Darf ich noch etwas fragen?“

      „Ja, mein Kind.“ Und wieder zeigte sich ein Lächeln auf ihrem faltigen Gesicht.

      „Wie viele Menschen versammelten sich damals in der Kapelle? Ich weiß, ich bin neugierig. Aber ich möchte mich in die Geschichte hineinversetzen können.“

      Seans Großmutter überlegte: „Die genaue Zahl kann ich dir nicht sagen. Hm, wer war alles da? Also: der Pfarrer, der Bäcker, die Köchin und ihre Küchenhilfen, der Gärtner, … der Schmied, … der Stallmeister, der Hausverwalter … und natürlich mehrere Zofen und Diener. Und dazu die Familien der Bediensteten.“

      Sean staunte. „Eine Menge Leute. Das war bestimmt eng in der Kapelle.“

      Kendra nickte. „Ja, es entwickelte sich zu einer sehr unangenehmen Situation, besonders, weil wir nicht wussten, was passiert war.“

      „Habt Ihr es bald herausgefunden?“

      „Eine