Geschichten des Windes. Claudia Mathis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Mathis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753197715
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zu uns und erzählte, dass zum Zeitpunkt des Glockenläutens eine Reitergruppe gesichtet worden war, die mit der englischen Flagge auf Dunnottar Castle zugeritten kam.“

      Seans Spannung stieg. Er erinnerte sich, einmal diese Flagge in einem Buch gesehen zu haben. Sie bestand aus einem roten Kreuz auf weißem Grund.

      „Aidan musste mit seinem Vater und seinen Brüdern zum Torhaus gehen, da sie sahen, dass eine kleine Abordnung Engländer bereits die Stufen emporstieg. Sie fluchten über den beschwerlichen Aufstieg und begrüßten den Burgherren barsch. Es folgte eine kurze Verhandlung, in der der Befehlshaber der Reiter die kampflose Übergabe der Burg forderte und verkündete, dass eine große Anzahl weiterer Soldaten bereits auf dem Weg war.

      Als Hamish die Kapitulation verweigerte, drohte der Engländer mit der Zerstörung des Castles und der Ermordung aller Bewohner. Hamish erwiderte, dass er sich niemals ergeben würde. Daraufhin sind die Soldaten wutentbrannt abgezogen und riefen, dass es Hamish bald leidtun werde.

      Nun, in der Kapelle, forderte Hamish alle Männer auf, die Burg zu verteidigen. Viele waren begeistert, endlich ihrem Groll gegen die Engländer Luft machen zu können und ihren Kampfgeist zu beweisen. Doch andere hatten noch nie gekämpft und fürchteten sich. Es half jedoch nichts, sie mussten ihr Zuhause und ihre Familien vor den Angreifern schützen. Die kampffähigen Männer hielten einen kurzen Kriegsrat in der Kapelle ab und verteilten die Aufgaben. Zuerst mussten alle Waffen und die Munition aus dem Lagerhaus geholt und auf die Verteidigungsposten verteilt werden. Außerdem war es nötig, die Kanonen im nordwestlichen und südöstlichen Teil der Burg auszurichten und zu bewaffnen. Wäre das geschafft, sollte jeder Mann auf einen Posten gehen und weitere Befehle abwarten. Ich wollte damals gut informiert sein und hatte versucht, alles genau zu verstehen.

      Als Aidan sich kurz bei uns verabschiedete, sagte er mir, dass er bei den nordwestlichen Kanonen eingeteilt wäre. Ich konnte Verbitterung, Entschlossenheit und zu meinem Entsetzen auch Angst in seinem Gesicht erkennen. Das letzte verunsicherte mich noch mehr, doch ich musste Ruhe ausstrahlen, damit sich unsere Kinder und auch die anderen Burgbewohner nicht noch mehr fürchteten.

      Bevor die Männer die Kapelle verließen, ordnete Hamish an, dass wir Frauen mit den Kindern und den Alten im Gotteshaus bleiben sollten, bis die Gefahr vorüber wäre. Er betonte, dass wir völlig sicher seien und bald wieder in unser Zuhause gehen könnten. Doch ich bemerkte eine leichte Unsicherheit in seiner Mimik und auch die anderen Bewohner sahen sehr besorgt aus. Wir versuchten, uns auf eine längere Zeit in diesem Raum einzustellen und die Angst, besonders um das Leben unserer Männer, zu verdrängen.“

      Kendra leckte sich die Lippen und bat um ihren Becher mit Wasser. Während Sean ihr diesen vom Nachttisch reichte und schweigend beobachtete, wie seine Großmutter vorsichtig einige Schlucke trank, erinnerte er sich an die Aufzeichnungen über William Wallace und daran, dass dieser alle englischen Soldaten, die damals auf der Burg stationiert waren, lebendig in der damaligen Kapelle verbrannt hatte. Unwillkürlich entwickelte sich vor seinem geistigen Auge eine Szene, in der brennende Leiber sich schreiend gegen die verschlossene Kapellentür warfen und elendig verbrannten. Sean schüttelte diesen Gedanken ab und blickte wieder zu seiner Großmutter. Sie reichte ihm den Becher und er stellte ihn wieder ab. Leicht erfrischt und mit etwas geschmeidigeren Stimmbändern setzte die alte Dame ihre Erzählung fort.

      „Diese Ungewissheit war schrecklich. Wir lauschten angestrengt, doch lange Zeit konnten wir nichts Bedrohliches wahrnehmen. Es war zu ruhig, schien mir. Die Kinder wurden quengelig und konnten nicht verstehen, warum wir nicht nach Hause gehen durften. Einige Alte dösten in den Bänken ein oder fingen ebenfalls an zu nörgeln. Deine Urgroßmutter schlief auf ihrer Trage tief und fest.

      Doch dann ging es plötzlich los. Wir hörten Schüsse, Musketenschüsse, Dutzende gleichzeitig, und es war laut, trotz der dicken Mauern um uns. Die Kinder fingen an zu weinen und die größeren von ihnen hielten sich die Ohren zu. Die Alten wachten zu Tode erschrocken auf, ein paar rutschten vor Schreck von der Bank. Ich wusste nicht, von welcher Seite die Schüsse kamen. Dann trat eine kurze Pause ein und wir atmeten erleichtert auf. War der Feind schon besiegt?

      Noch bevor ich diesen Gedanken zu Ende denken konnte, setzte eine neue Beschusswelle ein. Doch diesmal war es noch lauter und ich hatte das Gefühl, dass die Erde bebte. Die Angreifer hatten mit dem Kanonenbeschuss begonnen und warfen anscheinend auch Granaten. Ich hörte die Schreie unserer Männer, die sich Befehle zuriefen, und noch andere Geräusche. Die Pferde in den Ställen wieherten in Todesangst und traten gegen die Boxen. Die Mauern wurden getroffen, Steine bröckelten und fielen mit Krach zu Boden. Es war schrecklich. In der Kapelle breitete sich Panik aus und wir wollten unbedingt wissen, was da draußen vor sich ging.“

      Kendra machte eine Pause und Sean stellte sich entsetzt die armen Pferde vor, die eingeschlossen in den Ställen Todesangst erlitten. Dann blickte er zu seiner Großmutter und sah ihr verkrampftes Gesicht. Das Erzählen dieses bedrückenden Ereignisses machte ihr offenbar schwer zu schaffen.

      „Sollen wir eine Pause machen, Großmutter? Ich kann ein anderes Mal wieder vorbeikommen.“

      „Nein, mein lieber Junge, es geht schon wieder. Wo war ich? Ach ja. Dein Großvater kam bald völlig erschöpft zu uns. Nachdem er sich aus der stürmischen Umarmung von mir und seinen Söhnen befreit hatte, berichtete er kurz die Lage.

      Er erzählte, dass die ungefähr 700 Soldaten ein Zeltlager errichtet und sofort mehrere Geschütze auf dem südlichen Hügel gegenüber der Burg aufgebaut hatten. Am Anfang versuchten einige, an den Klippen emporzuklettern, um so auf die Halbinsel zu gelangen, doch sie wurden von unseren Männern abgeschossen. Da das Torhaus und der Pfad zum Festland bestens beschützt waren, konnten die Angreifer nicht auf das Burggelände kommen. Doch der Kanonenbeschuss war schlimm und fing an, die Burg zu zerstören. Auch vor den Musketenschüssen mussten sich unsere Männer in Acht nehmen, schließlich kann ein sehr guter Schütze ein Ziel treffen, das knapp 1000 Fuß10 entfernt ist. Natürlich ist das sehr selten und zum Glück gab es in unseren Reihen noch keine Verluste.“

      „Wurden die Engländer getroffen?“

      „Einige waren schon gestorben, aber die Soldaten hatten ein enormes Kanonenlager. Hamish erwartete sogar, dass sie Nachschub bekamen. Doch unser Vorrat würde nicht ewig halten. Die Lage sah schlimm aus. Deswegen, so berichtete Aidan uns, hatte Hamish die Entscheidung getroffen, dass alle außer den Kämpfern in derselben Nacht noch nach Stonehaven11 fliehen sollten.“

      „Aber wie soll das gehen?“, fragte Sean überrascht.

      „Du kennst doch den steilen Pfad zum Meer hinunter?“

      „Ja.“

      „Dort ist eine Höhle am Wasser.“

      „Ja, genau, die Höhle! Und dort sind Boote! Eine brillante Idee. Doch ist es weit bis Stonehaven?“

      „Es ist zu schaffen.“

      Seans Augen leuchteten und er schaute seine Großmutter an. Sie wirkte blasser als zu Beginn der Erzählung und lag schwach mit gequältem Blick in ihrem Bett. Kendra war beim Erzählen immer leiser geworden und Sean hatte zunehmend Mühe, sie zu verstehen. Es kostete ihn einige Überwindung, doch dann sprach er:

      „Wollt Ihr nicht doch lieber nächstes Mal weitererzählen? Ich finde das alles sehr interessant und äußerst spannend, doch Ihr seht sehr müde aus, Großmutter.“

      Sean nahm mitfühlend ihre Hand. Sie war wieder ein bisschen schmaler und knochiger als beim letzten Mal, wurde ihm bewusst. Er spürte einen Kloß im Hals und Tränen traten in seine Augen.

      „Nun gut, du hast Recht, ich muss mich ausruhen. Du kommst doch bald wieder, oder?“

      „Ja, Großmutter. Ich wünsche Euch eine gute Besserung.“

      Sean küsste sacht ihre Stirn und ging beklommen aus dem Raum. Musste seine Großmutter wirklich bald sterben?

      Fünf

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      Als Sean am nächsten Tag seine Großmutter besuchen wollte, hielt ihre Zofe ihn mit der Begründung davon ab, dass es ihr