Geschichten des Windes. Claudia Mathis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Mathis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753197715
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er sich gewohnheitsmäßig auf den Weg in Richtung Arthurs Zuhause, doch nach ein paar Schritten fiel ihm wieder ein, dass sie ja nicht mehr miteinander sprachen. Sean drehte traurig um, er hätte Arthurs Trost sehr gut gebrauchen können und war noch niedergeschlagener als zuvor.

      Es dauerte noch eine ganze Woche, bis Sean und Arthur wieder miteinander sprachen. Der Anlass für das Wiedersehen war eine Neuigkeit, die Arthur nicht für sich behalten konnte. Eine Weile hatte er sich gegen den Drang wehren können, Sean davon zu erzählen, aber es war doch zu aufregend. Auf dem Weg zum Palais kehrte Arthur zwar zweimal wieder um, aber er erreichte es dann beim dritten Anlauf schließlich doch.

      Arthur klopfte an die riesige Eingangstür und verspürte immer noch dieselben Beklemmungen wie beim allerersten Mal bei Familie McCunham. Der Verwalter Angus McMannis öffnete kurz darauf, begrüßte den jungen Gast freundlich und ließ ihn mit einer einladenden Geste eintreten. Angus fragte Arthur, ob er ihn hinaufbegleiten sollte, doch als dieser verneinte, widmete er sich wieder anderen Pflichten.

      Arthur schaute ehrfürchtig zur hohen Decke der Eingangshalle. Ihm wurde wieder einmal bewusst, wie unterschiedlich die Lebensweisen der beiden Jungen waren. Langsam schritt Arthur die große gewundene Treppe empor und er hatte das Gefühl, dass man in diesem Haus gar nicht schnell laufen konnte, man musste wandeln. Im oberen Stockwerk angekommen, hatte er noch einen langen Gang vor sich, bis er Seans Gemach erreichte. Arthur betrachtete beim Vorbeiwandeln ehrfürchtig die alten Gemälde an der Wand und zählte die Türen. Vor Seans Tür angekommen, blieb er erst eine Weile unsicher stehen, bevor er klopfte.

      „Wer ist da?“, hörte Arthur die vertraute Stimme von innen und spürte, wie sich eine Mischung aus Abneigung und Freude in seinem Bauch ausbreitete. Doch er musste zugeben, dass die Freude durchaus überwog. Er räusperte sich, weil er vor Scham einen Kloß im Hals hatte, bevor er antwortete:

      „Arthur!“

      Drinnen blieb es still und Arthurs Befürchtung, dass Sean ihn nicht sehen wollte, schien sich zu bewahrheiten. Traurig und enttäuscht lief Arthur wieder Richtung Treppe. Nach ein paar Schritten hörte er jedoch, wie eine Tür geöffnet wurde und Hoffnung keimte in ihm auf. Er blieb stehen und drehte sich um. Zu seiner größten Freude sah er, dass Sean aus der Tür schaute.

      „Komm rein“, rief Sean kühl.

      Arthur beeilte sich und ging schneller zu Seans Tür, als ihm seiner Meinung nach die Gemäuer erlaubten. Sean war bereits wieder in sein Zimmer geeilt und zeigte steif auf den Stuhl an seinem Schreibtisch. Arthur bemerkte, dass er dabei jeglichen Blickkontakt vermied.

      „Setz dich.“

      Arthur ließ sich irritiert auf dem Stuhl nieder und überlegte sich ernsthaft, ob es ein Fehler gewesen war, herzukommen.

      „Was ist denn los?“, wollte Sean ungeduldig wissen und blickte dabei aus dem Fenster.

      Betrübt und entmutigt versuchte Arthur, sich daran zu erinnern, was er Sean eigentlich mitteilen wollte. Als es ihm wieder einfiel, begannen seine Augen zu strahlen.

      „Meine Mutter ist schwanger!“, platzte es nun aus ihm heraus.

      Seans schlaffer, trauriger Körper straffte sich wie vom Blitz getroffen. Unwillkürlich schaute er Arthur nun doch an.

      „Waaas? Das ist ja großartig!“ Sean sprang zu Arthur und umarmte ihn, er hatte doch glatt vergessen, böse auf Arthur zu sein. Arthur erwiderte die Umarmung glücklich. Die Freunde hatten sich endlich wiedergefunden.

      „Wann ist es denn soweit?“, fragte Sean aufgeregt.

      „Im Herbst. Mann, ich kriege noch einen Bruder!“

      „Oder eine Schwester…“, überlegte Sean und lächelte schelmisch.

      Beide fingen an zu lachen und fühlten sich, als ob ein schwerer Stein von ihrer Brust entfernt worden war. Sie waren glücklich. Eine Weile sinnierten die beiden noch darüber, wie das Leben mit Arthurs neuem Geschwisterchen sein würde. Sean war auch nur ein bisschen neidisch auf seinen Freund. Raelyn, die Sean mit 41 Jahren bekommen hatte, war eindeutig zu alt, um noch einmal schwanger zu werden. Seans Geburt grenzte bereits an ein Wunder.

      Sean fragte Arthur nicht noch einmal nach dem Stein. Der Streit war beendet und sie konnten wieder gemeinsam lesen und auf den Frühling hoffen. Sie schauten dabei häufig auf das endlose Meer und schworen sich, eines Tages mit einem großen Schiff in die weite Welt zu segeln.

      Als einen Monat später in den Wäldern überall die blaue Glockenblume blühte, waren der Schnee getaut und die Lebensgeister der Menschen auf Dunnottar Castle wieder erwacht. Sean konnte endlich wieder hinausgehen und ausreiten. Und seine Mutter erholte sich zum Glück von einer schweren Lungenentzündung.

      Ende Mai geschah etwas Wunderbares. Als Sean und Arthur gerade wieder einmal durch die Zinnen des Tower Houses hindurch über das weite Festland blickten, sahen sie auf dem Weg aus Richtung Stonehaven einen einzelnen Reiter näherkommen. Er hatte viel Gepäck und war ziemlich schnell unterwegs. Die beiden Jungen mussten warten und ihre Ungeduld im Zaum halten, denn es dauerte eine ganze Weile, bis der Mann den Pfad zur Landzunge erreichte. Bei den Stufen angekommen, stieg er ab und führte sein braunes Pferd, das sehr erschöpft aussah. Arthur und Sean rannten neugierig zum Torhaus.

      Sie kamen gerade am Tor an, als der Reiter vor dem Wächter seine Kapuze lüftete und verkündete, wer er war. Aber Arthur brauchte den Namen gar nicht zu hören.

      „Jaimie!!“, rief Arthur fröhlich und fiel dem Mann um den Hals. Sean hätte nie gedacht, dass dieser zur Burton-Familie gehören würde. Jaimie hatte nämlich als einziges Kind von Fiona und Tevin die dichten dunkelbraunen Haare seines Vaters geerbt, die ihm bis zur Schulter reichten. Sean war sprachlos. Jaimie auch, weil sämtliche Luft von seinem kleinen Bruder aus seinen Lungen gepresst wurde. Er hatte Mühe, nicht von Arthur umgeworfen zu werden.

      Der Wachmann war sich nun sicher, dass dieser junge Mann kein Räuber war und ging schmunzelnd wieder in sein Wachhäuschen.

      Für Sean dauerte die Umarmung Stunden. Er wollte endlich mehr von dem geheimnisvollen Bruder wissen. Als sich Arthur schließlich löste, bemerkte Sean, dass beide Brüder Tränen in den Augen hatten. Wieder einmal wünschte er sich selbst einen Bruder.

      Plötzlich wurde die fröhliche Stimmung düster und Arthur schlug wild auf Jaimie ein. Dabei schrie er:

      „Warum bist du weggegangen? Mutter ist fast gestorben vor Sorge! Du elender…“

      „Halt! Hör auf Arthur!“ Jaimie hielt gekonnt beide Handgelenke seines Bruders fest. „Lass es mich doch erklären!“

      Arthur hörte auf, ihn zu schlagen. Er war erschöpft.

      „Komm, wir gehen erst einmal nach Hause. Ich erkläre es besser allen“, sagte der Ältere beschwichtigend und Arthur nickte.

      Um Sean kümmerten sich die Brüder überhaupt nicht mehr. Das ist wohl eine Familiensache, dachte er traurig. Schweren Herzens ging er nach Hause und hoffte, so schnell wie möglich alles von seinem Freund zu erfahren. Er hätte zu gern gesehen, wie die anderen Burtons auf Jaimie reagierten.

      ***

      Die nächsten Stunden im Burton-Haus waren sehr emotional aufgeladen, wobei die unterschiedlichsten Gefühle, von Freude über Neugier bis Wut, dabei eine Rolle spielten. Arthur hatte seinen Bruder überreden können, dass er den Heimkehrer vorstellte. So rief Arthur laut, als er die Haustür öffnete:

      „Mutter! Vater! Ich habe jemanden mitgebracht.“

      Fiona, die es schon gewöhnt war, dass ihr jüngster Sohn durch das ganze Haus rief, kam in die Küche und wollte gerade etwas erwidern, als ihr der Wäschekorb aus den Händen fiel und sich sämtliche saubere Wäsche auf dem Küchenboden verteilte. Fiona griff sich betroffen ans Herz, ihr Mund formte ein stummes „OH!“. Einen Moment lang hatte sie Angst, ohnmächtig zu werden. Dann weinte sie. Und ging mit ausgestreckten Armen auf ihren ältesten Sohn zu. Dass sie dabei über die Wäsche lief, bemerkte sie nicht.

      „J…Jaimie!“,