Geschichten des Windes. Claudia Mathis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Mathis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753197715
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missmutig. Ihr war es alles andere als recht, dass ihr Sohn wie wild durch den Wald ritt und schon die Anwesenheit von Armbrüsten ließ sie erschauern. Aber sie wollte ihrem Gemahl dieses Vergnügen nicht verderben.

      Nach dem reichhaltigen Frühstück ging es los. Jagden im Morgengrauen waren in Schottland nicht üblich. Sean hatte seine Reitkleidung angezogen und den von Kirstie vorbereiteten Proviant in seine Tasche gepackt.

      Vika, die ihn schon gewittert hatte, schnaubte aufgeregt, als er mit seinem Vater und den anderen Jägern zu den Stallungen kam. Sie stand schon bereit in ihrer Box. Friseal bellte und hüpfte ebenfalls aufgeregt. Sie schnupperte neugierig an den anderen Hunden, die sie bereits kannte.

      Alistairs Pferd Beira war ebenfalls bereits von Tevin gesattelt worden. Seans Vater hatte seine Stute nach der Riesin benannt, die in einer alten schottischen Sage Ben Nevis, den höchsten Berg des Landes, erschaffen hatte. Beira aus der Sage liebte Schnee und Eis und da passte der Name zu dem grau-weißen Fell des Pferdes sehr gut, fand Sean. Außerdem war die Stute ebenfalls sehr groß.

      Sean sah die Waffen der Jäger: kostbare Jagdarmbrüste aus edlem Holz und poliertem Horn. Sein Vater hatte ihm einmal erklärt, wie diese funktionierten und Sean hatte aufmerksam gelauscht. Zuerst musste der Bogen gespannt und der Bolzen aufgelegt werden und dann löste der Stecher nach einem kleinen Fingerdruck den Bolzenschuss aus.

      Alistair und seine Jagdkollegen benutzten keine Feuerwaffen. Sie fanden diese unritterlich und außerdem störte sie der laute Büchsenknall und der unangenehme Pulverdampf.

      Die Armbrust war laut Alistair die ideale Jagdwaffe, weil sie nahezu geräuschlos schoss und so das Wild nicht vertrieb. Außerdem kam es durch die Bogenspannung zu einer hohen Durchschlagskraft und man konnte das Wild lange mit gespannter Armbrust verfolgen, ohne dass die Bogenspannung und damit die Schussweite nachließen.

      Jeder Jäger hatte einen Köcher mit etwa zwölf Bolzen dabei. Diese Bolzen waren mit verschieden geschliffenen Eisenspitzen bestückt und die Schäfte wiesen unterschiedliche Befiederung auf. So gab es für jeden Zweck einen eigenen Bolzen. Man konnte die Tiere entweder nur betäuben oder unterschiedlich tief in deren Körper eindringen.

      Sean hatte sich oft schon vorgestellt, einmal solche Waffen im Einsatz zu sehen. Obwohl er Tiere sehr mochte, empfand er es nicht als schlimm, diese zu töten. Nun war er also mit dabei und konnte auf die Pirsch gehen. Natürlich würde er keine Waffe in die Hand nehmen, das hatte er seiner Mutter versprochen, aber allein das Zuschauen würde bestimmt sehr aufregend werden.

      Als alle Pferde gesattelt und die Jäger aufgestiegen waren, setzte sich die Jagdgesellschaft in Bewegung. Sean durfte mit seinem Vater an der Spitze reiten. Stolz hob er das Kinn und lenkte Vika den schmalen Pfad mit den vielen Stufen zum Festland entlang. Die Hunde rannten aufgeregt um die Gruppe herum. Es waren alles Deerhounds und ähnlich groß. Ihr langes braun-graues Fell glänzte im leichten Regen. Trotz des Regens war es noch erstaunlich warm und Sean kam schnell ins Schwitzen in seiner ledernen Reitkleidung, die mit Kaninchenfell gefüttert war. Er hatte schon wesentlich kältere Tage in dieser Jahreszeit erlebt.

      Sean drehte sich um und betrachtete die Jagdgesellschaft. Er zählte zehn Männer unterschiedlichsten Alters und erinnerte sich, einige davon schon einmal gesehen zu haben. Sean hatte immer gern beobachtet, wenn sein Vater zur Jagd auszog. Und heute war er selbst dabei! Seans Vater hatte ihm erzählt, dass sie vorwiegend Rothirsche jagten. Zahlreiche Geweihe konnte man in der Eingangshalle von Dunnottar Castle bewundern.

      Die Jagd war von jeher sehr beliebt bei den Männern höheren Standes. Und schon oft hatte Alistair stolz seinem Sohn die Trophäen gezeigt. Es befanden sich viele Sechs-, Acht- und Zehnender darunter. Doch der wahre König der Hirsche, ein sogenannter Kronenzwölfer, hing majestätisch in der Mitte. Seans Onkel Ennis hatte ihn vor fünf Jahren geschossen, als er ein paar Tage auf der Burg verweilte.

      Eine ganze Weile ritt die Jagdgesellschaft auf dem Küstenweg entlang, der nach Stonehaven führte. Sean genoss die fabelhafte Aussicht auf das stürmische Meer. Es regnete jetzt stärker und kalter Wind pfiff ihm um die Ohren. Sean schaute zurück und sah, wie Dunnottar Castle immer kleiner wurde.

      Plötzlich lenkte Alistair Beira nach links und sie kamen auf einen breiteren Weg, der ins Landesinnere führte. Die Gegend wurde zunehmend hügeliger und Sean fragte sich, ob dies schon die Ausläufer der Grampian Mountains wären. Von diesem weit ausgedehnten Gebirge aus Granit, Gneis, Marmor und anderen Gesteinen hatte ihm einmal Mr. Sutton erzählt. In dem Gebirge war auch Ben Nevis zu finden, der mit seinen 4413 Fuß17 als höchster Berg Schottlands über der Landschaft thront.

      Eine Weile mussten sie leicht bergauf reiten, bis am Horizont ein Wald auftauchte. Scheinbar war dieser ihr Ziel.

      Sean schaute angestrengt in Richtung Wald und erkannte beim Näherkommen schließlich, dass es sich größtenteils um Kiefern und Eiben handelte. Sein Vater erzählte ihm, dass es früher in der Gegend weit ausgedehnte Wälder gab, diese aber wegen zunehmendem Ackerbau und der Gewinnung von Weideland immer mehr abgeholzt wurden. Sean war nicht oft im Wald, aber er hatte die Abbildungen in den Büchern aus der Bibliothek studiert.

      „Vater, was bedeutet eigentlich Clan?“, fragte Sean. Er hatte das Wort schon so oft gehört oder gelesen, aber bisher noch nicht näher darüber nachgedacht.

      „Das ist so etwas wie eine große Familie. Es gibt überall Clans in den Highlands. Ich habe einmal gehört, dass es fast 200 Clans sein sollen. Sie gehen auf die alte keltische Stammeszugehörigkeit zurück.“

      „Ja“, nickte Sean. „Von den Kelten habe ich schon einmal gelesen. Sie besiedelten vor vielen Jahrhunderten unser Land.“

      Alistair nickte.

      „An der Spitze jedes Clans gibt es den Clanchief. Er ist dem König direkt unterstellt, muss ihm militärisch dienen und sowohl einen Teil der Ernte als auch des Viehs an ihn abgeben. Er hat außerdem mehrere Lehnsmänner unter sich, die ihm auch etwas abgeben müssen. Das Land und der Titel des Clanchiefs wird an seine Söhne weitervererbt.“

      „Und was sind Lehnsmänner?“

      „Die Tacksmen bewirtschaften gemeinsam ihr Lehen, ihr Stück Land, das sie sich vom Clanchief ausgeliehen haben.“

      „Seid Ihr denn der Clanchief vom McCunham-Clan, Vater?“

      „Ja. Unser legendärer Ahne Cináed Afton hat vor mehreren Jahrhunderten unser Land erworben und den Clan gegründet. Er entwarf unser Wappen und beeinflusste das Tartan-Muster.“

      „Von ihm hat mir Großmutter erzählt“, sagte Sean.

      Ihm war das Wappen mit dem Seehund und den drei Wellen sehr bekannt. Man konnte es an vielen Stellen im Dunnottar Castle finden. Sean hatte schon oft die darauf dargestellten Tiere an der Küste der Old Hall Bay im Süden des Castles beobachtet. Und ebenso kannte er den leuchtenden Stoff aus dunkelblauen und orangen Karos des Tartans. Unter anderem war seine warme Weste daraus gemacht.

      „Du wirst eines Tages auch das Oberhaupt vom McCunham-Clan sein, mein Sohn“, sagte Alistair stolz.

      Sean wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Nachdenklich ritt er weiter.

      Die Jäger tauchten in die stille, fast märchenhafte Atmosphäre des Waldes ein. Der Regen kam nicht mehr bis zum Boden, der mit Heidekraut bewachsen war. Es roch feucht und erdig. Sean liebte diesen Geruch. Er war gespannt, was nun passieren würde.

      Sie ritten tiefer in den Wald hinein. Bald bogen sie vom Weg ab, gerieten an den Rand einer Lichtung und hielten an. Die Jäger spannten ihre Armbrüste und legten den ersten Bolzen auf. Es war sehr still. Die Pferde und Hunde schienen darauf trainiert zu sein, ruhig zu bleiben. Nur einzelne Vögel konnte man hier und da hören. Sean kam es vor wie eine Ewigkeit, es passierte nichts.

      „Wie lange müssen wir noch warten?“, fragte er seinen Vater ungeduldig.

      „Pst! Sei leise!“, antwortete dieser nur knapp.

      Beleidigt streichelte Sean seine Stute. Irgendwie hatte er sich eine Jagd anders vorgestellt, auf jeden Fall spannender