Geschichten des Windes. Claudia Mathis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Mathis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753197715
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etwas zu spüren. Er hielt die Zügel straffer.

      Auf einmal rannten Friseal und die anderen Hunde los, die Pferde hinterher. Sean wäre fast von Vikas Rücken gefallen und konnte sich gerade noch am Zügel festhalten. Es ging nun alles sehr schnell. Sean hatte gar kein Tier gesehen, das sie jagen konnten. Gefährlich und rasant ging es durch das Dickicht. Sean hatte keine Kontrolle mehr über sein Pferd. Er wurde ordentlich durchgerüttelt und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

      Nach einem wilden, für ihn unendlich scheinenden Ritt wurde Vika langsamer. Sean konnte wieder Atem holen. Er bemerkte, dass sich seine Finger so verkrampft am Zügel festhielten, dass es wehtat. Sean schaute sich um und konnte niemanden sehen, doch die Hunde bellten. Er lenkte seine Stute in diese Richtung und sah dann zum Glück seinen Vater und die anderen Jäger. Sie bildeten einen Kreis und Sean konnte nicht sehen, was in dessen Mitte lag. Die Hunde bellten und hüpften wie verrückt.

      „Sean, komm her!“, rief sein Vater. „Schau, ich habe einen Hirsch erlegt!“

      Benommen stieg Sean ab und lief zum Kreis. Da erblickte er einen frisch geschossenen, relativ großen Rothirsch. Sean zählte zehn Geweihenden. Es war ein wunderschönes Tier. Die anderen Jäger nickten anerkennend.

      „Das wird eine schöne Trophäe. Ich zeige dir, wie wir ihn zerlegen und ausnehmen“, sagte Alistair stolz.

      Sean war enttäuscht. Er hatte überhaupt nichts mitbekommen! Halbherzig schaute er zu, wie die Jäger das Fell abzogen, das Geweih abtrennten, die Innereien im Wald vergruben und den Körper zerteilten. Sie verstauten alles auf verschiedenen Pferden.

      Für Sean, der dachte, dass die Jagd nun zu Ende wäre, wurde es ein langer Tag. Der Jagdhunger war noch nicht gesättigt und die Männer ritten noch bis zum Abend im Wald herum, lauerten und erlegten einige weitere Tiere. Zum Schluss waren die Pferde schwer mit drei Rothirschen, einem Reh, zwei Kaninchen und fünf Birkhühnern beladen. Die Jäger ritten erschöpft und zufrieden nach Hause.

      Einer war nicht zufrieden. Sean fand die Jagd alles andere als spannend und wollte auf keinen Fall noch einmal mitkommen. Aber er freute sich auf die leckeren Wildbraten, die es in den nächsten Tagen geben würde.

      Neun

      - 1692 -

      Aufgeregt rannte Sean den Gang entlang zum großen Salon. Sein alter Freund Angus hatte ihm gesagt, dass seine Eltern ihn unbedingt sprechen wollten. Sean dachte freudig, dass es um seinen morgigen 13. Geburtstag ginge und er beeilte sich sehr.

      Als er den Salon erreichte, traf er seine Eltern zusammengesunken vor dem Kamin an, in dem das Feuer ungerührt prasselte. Seans Herz setzte zwei Schläge aus. Was ist denn passiert?, fragte er sich.

      Alistair bemerkte Sean und erhob sich mühsam. Er nahm die beiden Hände seines Sohnes und schaute ihm lange und traurig in die Augen. Dann räusperte er sich und sagte mit belegter Stimme:

      „Sean, mein Lieber. Deine Großmutter ist heute Nacht von uns gegangen.“

      Sean trat entsetzt einen Schritt zurück. Er rang nach Luft, seine Augen waren weit aufgerissen. Tränen schossen seine Wangen hinab. Dann drehte Sean sich um und rannte aus dem Salon.

      „Sean!“, rief sein Vater und lief ihm schnellen Schrittes hinterher. Ohne zu klopfen trat er in das Gemach seines Sohnes und fand seinen Jungen schluchzend auf dem Bett liegen. Alistair setzte sich betrübt neben ihn und streichelte sanft seinen Rücken. So saß er, bis sich Sean etwas beruhigt hatte und sich seinem Vater zuwandte.

      „Warum?“, fragte Sean nur und blickte Alistair aus traurigen, geröteten Augen an. Er sah, dass auch sein Vater geweint hatte. Eine Welle tiefer Liebe durchströmte Sean und er umarmte seinen nach außen meist so gefühlskalten Vater lange. Er fragte sich verzweifelt, wer das tiefe Loch stopfen könnte, das der Tod seiner liebevollen Großmutter in sein Herz gerissen hatte. Ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte bei dieser Umarmung auf, Sean fühlte sich bei seinem Vater geborgen.

      Seans Geburtstag am nächsten Tag war trostlos, weil seine Großmutter fehlte. Alles fühlte sich so sinnlos an, auch die Anwesenheit seines besten Freundes konnte Sean nicht aufmuntern.

      Kendras Beerdigung fand erst eine Woche nach ihrem Tod, am 6. Februar, statt, da noch Alistairs Geschwistern Bescheid gegeben werden musste. Der Gottesdienst und die Beisetzung wurden auf Dunnottar Castle abgehalten. Es war ein sonniger Mittwoch und das Wetter passte überhaupt nicht zu der bedrückten Stimmung auf der Burg. Obwohl sie sehr eigensinnig war, hatten die meisten Burgbewohner die alte Lady gemocht, so dass die Kapelle voll war. Es wurde eine ergreifende, würdevolle Zeremonie.

      Einen Tag vor der Beisetzung war doch tatsächlich Seans Tante Allison angekommen, um ihrer Mutter die letzte Ehre zu erweisen. Sie hatte ihren Mann James MacGregor, einen netten älteren Herren, und ihr Baby Geillis, Seans Cousine, mitgebracht. Allison war sehr freundlich zu Sean und schien sich genauso zu freuen, ihn endlich kennenzulernen, wie er. Sean mochte die Familie auf Anhieb und war sofort in die kleine Geillis vernarrt.

      Natürlich bemerkte Sean die Spannungen zwischen Allison und seiner Mutter und er hatte das Gefühl, dass es für beide schwer war, im selben Raum sein zu müssen. Zu gern hätte Sean gewusst, was die Frauen auseinandergetrieben hatte, aber wen sollte er fragen?

      Seans Onkel Ennis war auch gekommen, aber würdigte ihn wie immer kaum eines Blickes, was Sean durchaus schmerzte. Sean betrachtete Ennis ehrfürchtig, da er ein Professor war, und somit ein wirklich kluger Mann sein musste. Sean hätte sich gern einmal mit ihm unterhalten, aber die unnahbare Art seines Onkels hielt ihn davon ab.

      Als dann der helle, mit schönen Schnitzereien verzierte und mit wunderschönen Blumen bedeckte Sarg seiner geliebten Großmutter auf dem Kirchhof in die Erde gelassen wurde, konnte Sean seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Benommen spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Er dachte erst, sie wäre von Arthur, doch als er hinüberblickte, nahm er wahr, dass sie Shona gehörte. Er schaute in ihr hübsches Gesicht und sah ihren mitfühlenden Blick. Sean nickte ihr dankbar zu und lächelte zum ersten Mal wieder seit dem Tod seiner Großmutter.

      ***

      Als Sean ein paar Tage nach der Beerdigung von den vielen Tränen erschöpft und mit hängenden Schultern zu Arthur ging, fand er seinen Freund niedergeschlagen auf dem Bett sitzen.

      „Was ist denn los?“

      Sean hatte eigentlich nicht die Kraft, seinen Freund aufzumuntern und setzte sich mutlos neben Arthur.

      „Ich hasse meine Eltern!“, sagte da Arthur aufgebracht. Sean überraschte die Aussage sehr. So etwas hatte er noch nie von Arthur gehört. Arthurs Eltern waren die besten, die Sean sich vorstellen konnte.

      „Ach, sag doch so etwas nicht! Es handelt sich bestimmt nur um ein Missverständnis.“

      Sean tätschelte Arthurs Hand und musste dabei an seine Großmutter denken. Er spürte, wie neue Tränen sich ans Licht kämpften, konnte sie aber hinunterschlucken.

      „Sie wollen, dass ich Priester werde! In Kinneff18!“, sagte Arthur abfällig. „ICH in einer Kirche! Das ist doch absurd!“ In Arthurs Augen schimmerten Tränen. Er hatte sich sein Leben anders vorgestellt. Er wusste zwar nicht wie, aber SO nicht!

      „Was haben sich deine Eltern dabei gedacht?“, wollte Sean wissen.

      „Ich weiß es doch auch nicht. Sie sagen, meine Zukunft wäre gesichert, aber sie haben mich überhaupt nicht gefragt. Ich soll ab nächstem Monat bei dem Priester dort leben und alles von ihm lernen. Er wäre sehr erfreut, dass ich lesen kann und nimmt mich gerne in seinen Dienst, hat meine Mutter gesagt. Aber ich will nicht!“

      Jetzt schluchzte Arthur laut. Sean nahm ihn stumm in die Arme. Ich muss mir etwas überlegen!

      Und das tat er auch. Die nächsten Tage verbrachte Sean damit, verschiedenste Lösungen zu suchen und abzuwägen. Er konnte kaum schlafen, die Gedanken an einen Ausweg kreisten wie wild in seinem Kopf herum und eine Idee war absurder als die andere. Was konnten sie nur tun? Dass Arthur weggehen würde, war keine Option. Ihn wollte Sean nicht