Geschichten des Windes. Claudia Mathis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Mathis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753197715
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Mit einem Kloß im Hals versuchte Fiona sich auf den Weg zu konzentrieren und ihre Besorgnis zu unterdrücken. Von ihrem Vater aus erwartete sie kein Gespräch, er sprach allgemein eher selten, besonders wenig mit seinen Kindern.

      Es war eine längere Fahrt als nach Stonehaven. Irgendwann sah Fiona von Weitem eine Burg an der Küste näherkommen. Es schien so, als ob diese ihr geheimnisvolles Ziel wäre. Je näher sie kamen, desto beeindruckender erschien ihr das Castle. Es lag direkt an den Klippen, auf einer kleinen Landzunge. Noch näher herangekommen bemerkte sie, dass einige Gebäude zerstört waren und sich im Aufbau befanden.

      Als sie schließlich über einen schmalen Pfad in Richtung Torhaus fuhren, bekam Fiona Angst, dass der ganze Karren ins Meer stürzen würde. Sie mussten aussteigen, den Karren stehen lassen und zu Fuß gehen, weil es nur noch Stufen gab. Keuchend kamen sie nach der langen Fahrt, dem anstrengenden Anstieg und der Passage des Torwächters im Burghof an.

      Fiona war zerzaust und ihre Beine zitterten. Sie strich ihre Schürze so gut es ging glatt und band ihr schönes geblümtes Tuch (Fionas wertvollster Besitz) neu um die Schultern. Dann flocht sie sich flink einen frischen Zopf aus ihren langen blonden Haaren.

      Sie befand sich vor dem größten Gebäude, das sie je gesehen hatte. Es bestand aus vier Flügeln, hatte eine Galerie und unzählige verzierte Fenster. Fiona staunte bei diesem Anblick, denn trotz einiger zerstörter Stellen sah es immer noch beeindruckend aus.

      Auf den Stufen stand ein älterer Herr und sagte freundlich: „Hallo Russel, wie war die Fahrt?“

      „Danke gut, Angus“, antwortete Fionas Vater. Fiona war erstaunt, dass sich die beiden Männer kannten.

      „Das ist sie also, Eure Tochter“, sagte dieser Angus.

      „Ja das ist sie. Sag Guten Tag, Fiona!“ Russel stieß seine Tochter in die Seite.

      Fiona machte verlegen einen Knicks und stammelte: „Guten Tag!“ Sie wurde ganz rot im Gesicht, denn sie wusste nicht, was das alles bedeuten sollte.

      „Wollt Ihr noch mit hineinkommen und Euch für die Heimreise stärken?“, fragte Angus Fionas Vater.

      Russel wehrte ab: „Das ist nicht nötig, ich muss wieder aufs Feld.“

      „Gut, dann übernehme ich das Mädchen jetzt.“

      Russel schaute zu Fiona. „Geh mit ihm, Kind.“

      Fiona starrte ihren Vater verdutzt an, sie verstand ihn einfach nicht. „Vater, was soll das bedeuten?“

      Doch Russel verabschiedete sich bereits von Angus, nickte Fiona kurz zu und ging in Richtung Torhaus.

      Fiona wollte ihm folgen, doch Angus hielt sie am Arm zurück. „Haben sie dir nichts gesagt?“, fragte er ungläubig.

      Fiona schüttelte den Kopf, Tränen traten in ihre Augen.

      Angus schaute sie freundlich an. „Hab keine Angst. Hier wird dich niemand fressen. Komm, ich stelle dich deiner neuen Herrin vor.“

      Damit öffnete er die große mächtige Eichentür. Nach einem verwirrten Zögern trat Fiona ein und staunte. Sie sah eine große, hohe Eingangshalle mit einigen Hirschgeweihen. Dann gingen sie einen Gang entlang und Angus klopfte an eine zweiflügelige Tür. Nach einem Ruf von innen öffnete er die Tür.

      Fiona erschrak, als sie den prunkvollen Salon sah. Wertvolle Möbel, Portraits in teuren Rahmen, ein langer polierter Tisch in der Mitte. Erst im nächsten Augenblick nahm sie die vier Personen auf einer edlen gepolsterten Sitzgruppe an der Seite wahr. Auf dem niedrigen Tisch in deren Mitte standen Teegeschirr und eine Schale mit Gebäck.

      „Dürfen wir eintreten?“, fragte Angus und deutete eine Verbeugung an.

      „Komm herein, Angus“, hörte Fiona eine dunkle Stimme.

      Angus setzte sich in Bewegung und zog Fiona sanft mit sich. Zögernd setzte sie einen Fuß vor den anderen und vermied den Blickkontakt mit diesen vornehmen Herrschaften. Sie schämte sich ihrer einfachen Kleidung und fühlte sich so einsam wie noch nie. Da spürte Fiona die Wärme des großen Kamins zu ihr herüberflammen und sie versuchte verzweifelt, die Kälte in ihrem Herzen daran zu wärmen.

      Ein Herr ungefähr in ihres Vaters Alter stand auf. Er trug ein kostbares Plaid15 aus orange-dunkelblauem Tartan. „Was ist so wichtig, Angus?“

      Angus nahm Haltung an. „Die neue Kammerzofe für die junge Lady ist da, Mylaird. Ihr Vater hat mir versichert, dass sie wohlerzogen, zuverlässig, äußerst fleißig und zutiefst gläubig ist.“

      Der Laird nickte zufrieden, doch Fiona traute ihren Ohren kaum. Hatte sie richtig gehört? Sie sollte Kammerzofe auf diesem Castle werden? Aber warum? Wie?

      Angus schaute sie an und sprach: „Fiona, das ist Mr. Aidan Afton McCunham, der Laird dieser Burg.“

      Überwältigt machte Fiona einen Knicks. Dann hörte sie eine angenehme weibliche Stimme: „Ah, die neue Zofe. Sehr gut. Lady Raelyn, ich hoffe, sie gefällt Euch.“

      Fiona entdeckte die Quelle dieser Worte: eine Dame mittleren Alters in einem edlen dunkelgrünen Kleid unterhielt sich mit einer um einige Jahre jüngeren Dame in ebenso edlem dunkelrotem Gewand. Das wird die Lady der Burg sein, dachte Fiona ehrfürchtig. Die Edelsteine der beiden Damen funkelten.

      Die Angesprochene drehte nun ihr blasses, zartes Gesicht in Richtung Fiona. „Wir werden sehen.“ Mehr Worte schien sie nicht für nötig zu halten.

      „Meine Sonne, gib dem Mädchen eine Chance“, beschwichtigte sie der jüngere Herr, der in ähnlichem Gewand wie der Laird gekleidet war.

      „Gut Angus, ihr könnt gehen“, sagte der Laird nun knapp.

      „Sehr wohl, Mylaird.“ Angus verbeugte sich kurz und nahm Fiona mit hinaus, die ganz vergaß, einen Knicks zu machen.

      Vor der Tür stand nun eine Frau in Magdkleidung.

       „Das ist Colina“, sagte Angus. „Sie kümmert sich um dich und zeigt dir deine Kammer. Ich muss wieder an die Arbeit.“ Damit verließ Angus sie, der einzige Mensch in diesem großen Castle, bei dem sie sich halbwegs sicher fühlte.

      Fiona wurde übel. Sie wusste, dass das kein Spiel war, sondern tiefster Ernst. Sie musste auf dieser Burg bleiben. Ihr Herz wurde schwer. Lieben meine Eltern mich denn überhaupt nicht?

      An diesem Tag hatte Fiona ihre Eltern das letzte Mal gesehen. Auch ihre Geschwister Hailey, Alick, Finley, Torin, Sloan, Callum, Kelvin und Brenda waren mit einem Mal aus ihrem Leben verschwunden. Ihre Zukunft lag auf dieser Burg und die Erinnerung an ihre Familie würde mit der Zeit immer mehr verblassen.

      Seufzend dachte Fiona an diesen schweren Augenblick zurück und an die Angst, die sie verspürte - so allein mit all den fremden Menschen auf diesem riesigen Castle.

      Die erste Zeit stellte für Fiona eine große Herausforderung dar. Sie war die Kammerzofe von Raelyn Isobel McCunham, der Gattin des Erben des Lairds: Alistair Afton. Die bisherige Zofe hatte der jungen Lady nicht mehr zugesagt und so suchte sie nach einer neuen. Lady Raelyn, eine eher zart besaitete Dame, war pedantisch und kompliziert und hatte an allem etwas auszusetzen. Doch Fiona ertrug dies geduldig und war stets fleißig und freundlich.

      Fiona zermarterte sich immer wieder das Hirn, was sie falsch gemacht hatte und warum ihre Eltern sie nicht mehr wollten.

      Erst viel später fand Fiona heraus, dass ihre Eltern Mühe hatten, einen Mann und somit eine Versorgung für sie zu finden. Mit ihren Brüdern war der Hof gut ausgelastet. Als Russel von seinem Bekannten Angus, dem Verwalter von Dunnottar Castle, hörte, dass auf der Burg eine Kammerzofe gesucht wurde, boten sie Fiona an, ohne diese zu fragen. Und so kam Fiona schließlich nach Dunnottar Castle und hatte zumindest einen Schlafplatz und etwas zu essen.

      Doch das Leben wurde leichter. Nach und nach wusste Lady Raelyn die ruhige und besonnene Art ihrer neuen Zofe zu schätzen. Schließlich begann sie Fiona zu mögen und sogar in gewissem Maße zu respektieren. Fiona konnte sich auch immer mehr