Geschichten des Windes. Claudia Mathis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Mathis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753197715
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kleinere und größere Fischerboote auf dem Meer vor der Küste von Stonehaven.

      Russels kleiner Hof war seit Jahrhunderten im Besitz der Familie Bothain, was so viel wie Haus aus Stein bedeutete. Das winzige Bauernhaus bestand tatsächlich aus Stein, genauer gesagt, aus dem dunklen porösen Schiefer der Region. Durch die wenigen kleinen Fenster schien nur selten Sonnenlicht herein und so war es in dem einzigen Wohn- und Schlafraum meistens halbdunkel.

      Russel hatte neben dem Haus und dem Boden auch einen alten, schweren Holzpflug geerbt. Dieses große, traditionelle, schottische Landwirtschaftsgerät musste von sechs bis acht Gespannochsen gezogen werden. Doch niemand in der Umgebung hatte so viele dieser wertvollen Zugtiere, also mussten sich von jeher die Bauern zusammentun und sich gegenseitig ihre Ochsen leihen. Russels Familie war schon ewig mit den McNeills oben auf dem Hügel befreundet und die beiden Familien kümmerten sich gemeinsam um die Bestellung ihrer Felder. Fiona, ihre Mutter Jenna und die älteren ihrer Geschwister mussten auch mithelfen, wenn es mit Pflug, Sichel und Krummspaten ans Werk ging.

      Die Felder waren in ungefähr dreizehn Meter langen und sieben Meter breiten S-förmigen Streifen, den sogenannten Rigs, angelegt. Fionas Vater meinte, dass das immer schon so gewesen war und dass die Seiten als Kanäle dienten, damit das Regenwasser ablaufen konnte. Das gestaltete sich bei dem sehr feuchten Boden als Vorteil. Jedoch erschwerte diese Form das Pflügen stark.

      Das Unkraut wurde außerdem wachsen gelassen, da die Leute in ihrem Glauben dachten, dass es durch Gottes Gnaden seine Daseinsberechtigung hatte. Am Ende des Jahres konnten die Bauern aufgrund des kargen Bodens, des feuchten, kalten Klimas und der ineffizienten Anbaumethoden nur einen geringen Teil des angebauten Getreides (meistens Hafer und Gerste) in ihre Scheunen bringen. Als Gemüse wurden nur Rüben angebaut, etwas anderes wuchs in der Region nicht gut.

      Nicht gerade ertragreicher gestaltete sich damals die Viehzucht. Wie die meisten Bauern in den südöstlichen Highlands hatte Fionas Vater Schafe, Ziegen und eine kleine Herde des zähen einheimischen Schwarzrindes.

      Im Sommer war es üblich, mit dem Vieh in die Berge zu gehen und erst im Herbst zurückzukehren. Danach konnte man den kargen Ertrag der Felder ernten und ihn gemeinsam mit ungefähr einem Fünftel der Ziegen, Schafe und Rinder auf dem Markt von Stonehaven verkaufen.

      Die Familie Bothain hatte in den Bergen eine kleine Hütte, in der sie den Sommer über hauste. Für Fiona war das eine öde Zeit. Der ständige Nebel und die kühlen Temperaturen machten das Leben nicht gerade angenehm. Sie hasste es, früh aufstehen zu müssen, um die Ziegen zu suchen und zu melken.

      Außerdem gab es keinen Brunnen und so mussten sie sämtliches Wasser aus dem Fluss holen. Das Brennholzsuchen war besonders anstrengend. Es gab tagein tagaus Porridge, den geschmacklosen gekochten Haferbrei. Zum Glück konnte sich Fiona die Arbeit mit ihren Geschwistern einteilen.

      Fiona freute sich immer schon auf den Herbst, wenn sie wieder in ihrem knarrenden Bett schlafen konnte. In der Hütte gab es keine Betten, sondern nur den harten mit Stroh bedeckten Boden. Im Herbst wuchsen außerdem Heidelbeeren, die auf den Hügeln und in den Mooren zu finden waren. Fiona pflückte sie gern, da sie den gewürzlosen Haferbrei etwas schmackhafter machten. Bloß blieb bei so vielen Mäulern nie viel für sie übrig.

      Aber der Winter war weitaus schlimmer als der Sommer in den Bergen. Dann gab es nur noch Brei aus Gerstenmehl und Wasser, nicht einmal mehr Ziegenmilch. Die Bauern hatten kein Heu für die Tiere und somit verhungerte jeden Winter ungefähr ein Fünftel des Viehs.

      Die überlebenden Tiere mussten im Frühjahr auf die Weiden getragen werden, weil sie so schwach waren. Dieses sogenannte highland lifting gestaltete sich jedes Mal als sehr anstrengend. Leider wurde der Viehbestand der Bauern nicht nur durch das fehlende Heu dezimiert. Es waren auch immer wieder Viehdiebe unterwegs, die die schwachen Tiere von den Weiden stahlen.

      So sah das Leben von Fiona aus, als sie Kind und Jugendliche war. Die einzige Abwechslung in dieser Eintönigkeit waren die Markttage. Fiona musste beim Verkaufen der Ernte und des Viehs helfen und konnte so das rege Treiben auf dem für den kleinen Ort recht großen Marktplatz genießen. Stonehaven war ein Fischerdorf an der Küste und deshalb wurde hauptsächlich frischer Fisch verkauft. Fiona liebte es, die vielen Menschen zu beobachten, da die Familie Bothain sehr zurückgezogen auf ihrem Hof lebte.

      An solch einem Markttag vor achtzehn Jahren lernte Fiona schließlich Tevin kennen. Sie hatte diesen jungen Mann auf Anhieb interessant gefunden. Er wollte gerade ein Pferd verkaufen, als sie auf ihn aufmerksam geworden war. Tevins Pferd, ein wunderschöner schlanker Schimmel, bewegte sich wild und riss sich fast vom Zügel los. Da griff Fiona beherzt zu und verhinderte so, dass das Pferd dem jungen Mann davonlief.

      „Vielen Dank!“, sagte Tevin keuchend, als er den Zügel des Hengstes an einen Balken gebunden hatte. „Ihr habt mich gerettet! Wie kann ich Euch danken?“

      Der junge Mann verbeugte sich galant. Dabei fiel ihm sein dichtes braunes Haar ins Gesicht. Mit Schwung richtete er sich auf und blickte direkt in Fionas blaue Augen.

      Die junge Frau errötete und stammelte schüchtern: „Äh… das war doch selbstverständlich…“

      „Aber nein, ich möchte mich erkenntlich zeigen. Kann ich Euch einmal in den Pub einladen?“, sprach Tevin.

      Er dachte, dass die hübsche, blonde Frau bedeutend älter war als ihre sechzehn Jahre. Fionas Mutter hatte alles beobachtet und wirkte aufgrund dieser Szene gar nicht glücklich.

      Bevor ihre Tochter etwas erwidern konnte, zog Jenna sie schroff zum Karren und machte sich daran, den Rest der Einkäufe aufzuladen. Fiona wusste nicht, wie ihr geschah und blickte sich verwundert zu dem charmanten jungen Mann um. Sie hatten nicht einmal Zeit gehabt, sich einander vorzustellen. Dann fuhren sie los.

      „Auf Wieders…“, hörte sie ihn von Ferne rufen und sie winkte ihm schüchtern zu. Als sie an diesem Abend im Bett lag, musste Fiona verwirrt aber glücklich an diese Begegnung denken.

      Hier hätte die Geschichte der Familie Burton enden können und Arthur und seine Geschwister wären nie geboren. Doch es sollte anders kommen.

      Ungefähr einen Monat danach bemerkte Fiona, dass ihr Vater den Ochsenkarren anspannte.

      „Wohin fahrt Ihr, Vater?“, fragte sie, als sie zu ihm trat.

      „Nicht nur ich allein fahre, du kommst mit“, entgegnete er ihr schroff.

      Erstaunt sprach sie: „Wohin fahren wir?“

      Es geschah selten, dass die Familie Bothain den Ochsenkarren verwendete, außer, um auf den Markt zu fahren. Russel grunzte nur undeutlich und Fiona traute sich nicht weiter nachzufragen. Sie war sehr verwirrt und aufgeregt.

      Da trat ihre Mutter aus dem Haus und ging zu Fiona und Russel. „Fiona, hol dein Tuch!“, sagte Jenna. Sie sah noch griesgrämiger aus als sonst und Fiona wusste, dass auch ihre Mutter nichts Weiteres verraten würde.

      Fionas zwei kleine Geschwister Kelvin und Brenda rannten gerade aus dem Haus, als Fiona ihr Tuch geholt hatte. Ihre älteste Schwester Hailey rempelte sie an, als sie keuchend hinter den Kleinen herlief und versuchte, sie einzuholen.

      Fiona ging mit einem seltsamen Gefühl zu ihren Eltern.

      „Was trödelst du denn so? Setzt dich!“, rief Russel grob vom Kutschbock herunter.

      Fiona schaute verwirrt zu ihrer Mutter. „Kommt Ihr nicht mit?“

      „Nein“, entgegnete Jenna kurz. „Los, steig schon auf.“

      Fiona schaute fragend zu Hailey, die die Jagd auf ihre Geschwister aufgegeben hatte. Als diese nur mit den Schultern zuckte, stieg Fiona auf den Kutschbock. Nur selten durfte sie dort sitzen, meist musste Fiona auf der dreckigen Ladefläche Platz nehmen, wo sonst die Rüben und das Getreide zum Markt gebracht wurden.

      Kaum hatte sich Fiona neben ihren Vater gesetzt, schnalzte dieser mit der Zunge und die beiden Ochsen bewegten sich vorwärts.

      „Leb wohl!“, klangen ihr die befremdlichen Worte ihrer Mutter ins Ohr. Fiona blickte zurück und