Martin begann plötzlich, aus seinem Dämmerschlaf heraus, zu sprechen. »Wo ist meine süße kleine Sache?« brachte er mit schwerer, lallender Zunge hervor. »Ich hatte doch einen recht stattlichen Vorrat … Ist denn alles aufgebraucht? O weh – ist der kleine Vorrat denn ganz zu Ende …?« Der Schlafende weinte. Dicke, leuchtende Tränen kamen unter seinen geschlossenen Lidern hervor; rannen langsam über die weißen Wangen und blieben träge in den Mundwinkeln hängen. Schwester Rosa neigte sich über ihn und trocknete ihm, sehr zart und behutsam, mit ihrem eigenen Taschentüchlein das Gesicht.
Als Martin aufwachte, war später Nachmittag. Seine erste Empfindung war: ›Ich bin in der Hölle. Solche Zustände kommen nur in der Hölle vor …‹ Dann beschloß er: ›Ich halte es nicht mehr aus. Ich bin am Ende. Die nächste halbe Stunde überlebe ich nicht. Ich bringe mich um. Ich bin entschlossen, mich umzubringen. Aber wie?‹
Aber wie? – über diese Frage dachte er mehrere Minuten lang angestrengt nach. Das Zimmer lag im Parterre; der Sprung aus dem Fenster würde sinnlos sein. Weder Gift noch Revolver waren zur Hand. ›Ich habe gehört, daß man sich an einer Krawatte oder an einem Gürtel aufhängen kann‹, dachte Martin. ›Aber dazu muß man sicherlich geschickter sein, als ich es bin. Wahrscheinlich würde die Schlinge mir reißen: das wäre dann eine Blamage und eine Peinlichkeit. – Wenn ich ein gutes, starkes Rasiermesser hätte, könnte ich mir die Pulsadern aufschneiden. Ich habe aber nur einen Giletteapparat. Kann man sich mit Rasierklingen die Adern öffnen? Vielleicht. Aber es ist eine Schweinerei. Wie umständlich so ein Selbstmord zu sein scheint!‹
Er stürzte durchs Zimmer, wie von Furien gejagt. Obwohl die Knie ihm schwankten und sein schweißgebadeter Körper am Zusammenbrechen war, rannte er mindestens ein dutzendmal hin und her. Er zündete sich eine Zigarette an; drückte sie wieder aus; griff nach einer neuen. Jedesmal wenn er am Spiegel vorüberkam, erschrak er über sein Aussehen. Auf dem weißen Gesicht lag ein beinah irrsinniger Ausdruck von Angst; als wäre ein Raubtier oder ein Feuerbrand hinter ihm her. Er fand den Blick der eigenen Augen entsetzlich. Die Pupillen waren unnatürlich erweitert. Der Ausdruck von Verzweiflung, Durst und Gier, mit dem diese Augen ihn anschauten, war unerträglich.
»Genug!« sagte Martin laut und deutlich zu sich selber. »Es ist genug!« Er öffnete den Schrank, in den Schwester Rosa seine Kleidung gehängt hatte. In zwei Minuten war er angezogen. Taumelnd, keuchend und zitternd machte er sich daran, seine Handtasche zu packen. Während er Toilettesachen, Socken, Hemden, Bücher und Pyjamas in den Koffer warf, setzte plötzlich eine strenge und zarte Musik ein. Im Nebenzimmer wurde Geige gespielt. ›Welch zarte Aufmerksamkeit!‹ dachte Martin, halb gehässig, halb wirklich gerührt. ›Man bringt mir ein Abschiedsständchen! – Wer mag da wohl musizieren? Freilich, es gibt ja noch andere Bewohner, außer mir, in diesem Etablissement, das zugleich wie eine Familienpension und wie ein intimes Privatirrenhaus wirkt … An diese anderen Kranken habe ich noch gar nicht gedacht … Müssen die auch so grauenhaft leiden wie ich …? Der Geisteskranke in der benachbarten Stube – denn wahrscheinlich handelt es sich doch um einen Geisteskranken: um einen manisch Depressiven, denke ich mir – versteht es übrigens ganz artig, auf der Violine zu spielen … Habe ich nichts vergessen? Ich will noch einen Zettel für Schwester Rosa schreiben: Adieu. Vielen Dank. Schicken Sie mir die Rechnung nach Paris. Sie wird bezahlt.‹
Er schrieb den Zettel, wobei er sich redliche Mühe gab, mit seiner zitternden Hand leserliche Zeichen aufs Papier zu bringen. Er zog sich den Mantel an. Dann öffnete er – vorsichtig, wie jemand, der einen Mord vorbereitet – die Tür zum Flur, um zu hören, ob es draußen stille war. Schwester Rosa hatte wohl im oberen Stockwerk zu tun. ›Sie hat kein leichtes Leben‹, dachte Martin, während er auf Zehenspitzen sein Zimmer verließ. ›Fräulein Bürstel ist vermutlich ausgegangen. Sie sitzt mit einer Bekannten in der Konditorei. Wie ich Fräulein Bürstel kenne, mag sie gerne heiße Schokolade und Torte …‹
Auf dem Korridor, dessen etwas muffiger Geruch ihm schon recht vertraut geworden war, blieb Martin ein paar Sekunden lang stehen, um der Geigenmusik zu lauschen. ›Der manisch Depressive spielt Bach‹, konstatierte er mit einer gewissen Ergriffenheit. ›Ich würde gerne wissen, wie der Mensch aussieht, der dort hinter der geschlossenen Türe spielt. Ist es eine Frau oder ein Mann? Ich glaube, daß es ein älterer Mann ist … Mein Gott, wie ich zittere! Wie meine Knie schwanken! Und wie naß meine Hände sind … Ich schleiche durch den dämmrigen Korridor: vorsichtig wie ein Mörder. Vorsichtig wie ein Mörder öffne ich jetzt diese Haustür. Das Gefängnis liegt hinter mir. Arme Schwester Rosa – wie wirst du erschrecken, wenn du das Zimmer leer findest! Du wirst einen bestürzten Brief an deinen Bräutigam nach Luzern schreiben … Da ist die Straße. Aber wie kalt es ist! Es ist scheußlich kalt.‹
Ein Taxi kam vorüber, Martin winkte dem Chauffeur. »Fahren Sie mich zur nächsten Apotheke!« sagte er ihm.
Die Fahrt dauerte ziemlich lang. Martin fühlte sich im Wagen ein wenig besser. Unangenehm war, daß er so bitterlich fror. Er mußte wieder fünfmal hintereinander niesen. Als der Nieskrampf vorbei war, setzte ein Gähnkrampf ein. Er spürte plötzlich eine lähmende Müdigkeit. Die Beine taten sehr weh.
Es war eine große, stattliche Apotheke, vor welcher das Taxi hielt. Martin bat den Chauffeur, ein paar Minuten auf ihn zu warten; er sprach – aus Angst, in seiner Not hastig oder unhöflich zu sein – besonders ausführlich und artig.
Drinnen, in der Apotheke, gab es mehrere Kunden: zwei alte Damen, denen eine Verkäuferin kleine Packungen mit Kräutertee vorlegte; eine jüngere Frau mit einem kleinen Buben, der lächerlich runde und rote Backen hatte; einen älteren Herrn, der auf einer Waage stand, um sein Gewicht zu prüfen – übrigens schüttelte er erstaunt und betrübt den Kopf über das Resultat; es stellte sich wohl heraus, daß er entweder viel schwerer oder viel leichter war, als er angenommen und gehofft hatte.
Martin ging etwas schwankenden, aber entschlossenen Schrittes um den Ladentisch herum und sagte zu dem Fräulein, das mit den beiden Alten und den Kräuterteepackungen beschäftigt war: »Ich möchte Ihren Chef sprechen.« Das Fräulein lächelte erschrocken – sie fürchtete wohl, es mit einem Wahnsinnigen zu tun zu haben; da kam der Chef schon herbei. Mit weißem Vollbart, hoher Stirn und goldgerandeter Brille wirkte er stattlich, fast majestätisch. »Was wünscht der Herr?« erkundigte er sich drohend.
›Der nächste Augenblick entscheidet über Leben und Tod‹ – empfand Martin, dessen Knie immer heftiger zitterten. – ›Wenn der stattliche Alte mir die Droge nicht gibt, falle ich hin, schreie noch ein wenig und sterbe.‹
Er gab sich Mühe, ein gefaßtes Gesicht zu machen. »Ich bin auf der Durchreise hier«, bemerkte er und versuchte es mit einem einschmeichelnden Lächeln. Der Apotheker sagte: »Aha!« – wobei er lauernd den Kopf senkte und seinen schönen Bart gegen die Brust drückte. – »Es ist dumm«, plauderte Martin mit verzerrter Miene – er fürchtete, im nächsten Augenblick wieder weinen zu müssen – »es ist wirklich recht lästig. Ich benötige nämlich ein Medikament – mein Hausarzt hat es mir gegen die bösen Gallenschmerzen verschrieben … Es heißt Eucodal«, gestand er und wurde ein wenig rot. »Ein ganz leichtes Mittel …« fügte er, sinnloserweise, hinzu.
Der Apotheker sagte schnell und sehr kalt: »Dafür benötige ich das Rezept eines hiesigen Arztes.« Martin begriff die totale Hoffnungslosigkeit der Situation. »Ich dachte – ein paar Ampullen …« sagte er noch, von Schmerzen und Kälte gebeutelt wie von einer riesigen Hand. Der Apotheker stellte feindlich fest: »Nichts zu machen.« Martin fühlte nur: ›Jetzt falle ich hin