Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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– in aqua destillata aufgelöst – würde mich von beiden entfernen. Um ihretwillen und um Marions willen und um Davids willen muß ich es loswerden. Ich muß es loswerden – drittens: weil ich das Ende der großen Schweinerei in Deutschland erleben möchte und sogar mein kleines Teil dazu beitragen will, daß sie endigt. Abzukratzen, solange dieser degoutante Schwindel mitten in Europa triumphiert: nein – das ist entschieden eine peinliche Vorstellung.

      Um der Liebe willen und um des Hasses willen lohnt es sich, zu leben. – Lohnt es sich, zu leben?‹ fragte er sich ein paar Sekunden später. ›Mein verruchter Lieblingsdichter sagt: Nein. Er ist ein Unhold und ein Anarchist, und mit diabolischem Grinsen ist er zum Todfeind der Gesittung übergelaufen. Übrigens gibt es in Deutschland wohl fast niemanden mehr, der empfänglich wäre für den Zauber seiner brutalen und morbiden Romantik. Was für ein gefährlicher Charme! Von welch makabren Wonnen er zu berichten und zu beichten weiß! Ich bin empfänglich für seine schaurig exakt formulierte Todesmystik … Mir scheint leider, ich bin, immer noch, zu empfänglich für sie …‹

      Neben ihm, auf dem Nachttisch, lag der kleine schwarze Band mit den »Ausgewählten Gedichten« des infamen Lieblingspoeten. Nun griff Martin nach ihm, mit der gleichen gierigen und etwas schuldbewußten Geste, mit der er sonst nach der Spritze langte. Und er las:

      »Wenn du die Mythen und Worte

      Entleert hast, sollst du gehn,

      Eine neue Götterkohorte

      Wirst du nicht mehr sehn,

      Nicht ihre Euphratthrone,

      Nicht ihre Schrift und Wand –

      Gieße, Myrmidone,

      Den dunklen Wein ins Land.

      Wie dann die Stunden auch hießen,

      Qual und Tränen des Seins,

      Alles blüht im Verfließen

      Dieses nächtigen Weins,

      Schweigend strömt die Äone,

      Kaum noch von Ufern ein Stück,

      Gib nun dem Boten die Krone,

      Traum und Götter zurück.«

      ›Wie schön!‹ – empfand Martin auf seinem Lager. – ›Wie fürchterlich – ach, wie betäubend schön! Wieviel Stolz in seinen Worten, neben der unermeßlichen Traurigkeit! Übrigens hat er recht: Wir sind an einem Ende. Eine große Periode ist abgelaufen. Kommt eine neue? Es ist nicht die unsere – die meine ist es nicht mehr. Wozu teilnehmen an Kämpfen, deren Entscheidung wir nicht erleben werden? Wenn du die Mythen und Worte entleert hast, sollst du gehn – eine neue Götterkohorte wirst du nicht mehr sehn …

      Wirst du nicht mehr sehn …

      Wozu der ungeheure Aufwand an Kraft, wenn es dir doch nicht bestimmt ist, die Hieroglyphen der neuen Gesetzestafeln zu begreifen? Wozu – ach, wozu? Warum ist es mir nicht gestattet, mit geschlossenen Augen ins Dunkel zu stürzen, wenn ich in der Helligkeit doch nichts auszurichten vermag – außer dem einen: meine Hilflosigkeit, meine Ratlosigkeit, meine Angst, die Melancholie des Umstandes, daß ich zu früh oder zu spät auf diese Welt gekommen bin, immer wieder leidend zu erkennen?

      Mein heruntergekommener Poet ist ein moralisch suspekter, aber gescheiter Mann. – Gib nun dem Boten die Krone – Traum und Götter zurück …‹

      Statt des Boten, der Schmuck und Waffen des Abdankenden hätte an sich nehmen können, um sie den alten oder den neuen oder den ewigen Göttern als Opfergabe zu Füßen zu legen, war es Schwester Rosa, die eintrat. Auf einem kleinen Silbertablett präsentierte sie die Schlafmittel wie eine Delikatesse. Es waren drei runde, weiße Tabletten; Martin schluckte sie mit ein wenig Wasser. Schwester Rosa, die ihrerseits müde schien, zwang sich dazu, noch einen kleinen Trost durch Lächeln zu spenden, und entschwand – ein überanstrengter, aber noch in der Erschöpftheit hilfsbereiter und adretter Engel.

      Sie hatte die Lampe verdunkelt. ›Ich werde schlafen können‹, empfand Martin mit einer Dankbarkeit, die zu kleinen Teilen Schwester Rosa galt, vor allem aber jenem enormen, immer nur sehr undeutlich zu erkennenden Wesen, das der kleine Kikjou mit sanftem Augenaufschlag, vertraulich und beinah zärtlich, »le Bon Dieu« nannte.

      Der nächste Tag war erträglich. Doktor Rüteli verabreichte schwere Schlafmittel. Martin wachte fast nur zu den Mahlzeiten auf. Schwester Rosa behandelte ihn mit teils nonnenhaft ernster, teils koketter Aufmerksamkeit; zuweilen konnte sie nicht umhin, der Ähnlichkeit ihres Patienten mit dem ihr anverlobten Pädagogen in Luzern nachdenklich und gerührt Erwähnung zu tun.

      Übrigens fand der Arzt Martins Zustand relativ so vorzüglich, daß er schon für diese Nacht mit den Morphinedosen aufzuhören beschloß. Es war nur noch Luminal und Phanodorm, was Schwester Rosa, abends um zehn Uhr, auf ihrem Tablett lockend herantrug.

      Martin erwachte gegen vier Uhr morgens mit heftigen Schmerzen in den Beinen, besonders in der Kniegegend. Er war in Schweiß gebadet; auch lief ihm die Nase, als hätte er sich über Nacht einen starken Schnupfen geholt. Er mußte viele Male hintereinander krampfhaft niesen. Gleichzeitig spürte er wildes Bauchgrimmen. Er stand zitternd auf; hüllte sich, zugleich fröstelnd und schwitzend, in seinen Schlafrock und verließ das Zimmer, um durch den dunklen Korridor zur Toilette zu eilen. Er fand die Türe nicht gleich. Er beschmutzte sich den Pyjama, ehe er die Toilette erreichte.

      Der Zustand seines Unbehagens war unbeschreiblich. Er legte sich wieder aufs Bett; aber er war nicht dazu imstande, seine Glieder auch nur eine Minute lang stillzuhalten. Alles an ihm zuckte; Füße und Hände bewegten sich wie in einem Krampf. Er warf den gepeinigten Kopf hin und her. Niemals hätte er für möglich gehalten, daß man gleichzeitig bis zu diesem Grade erschöpft und erregt sein konnte. Er war zu schwach, um das Bett zu verlassen; aber sein nasser, bebender Leib hielt es keine dreißig Sekunden in der gleichen Lage aus. – Keine Krankheit war je annähernd so schlimm gewesen. Fieber und ein solider, kontrollierbarer Schmerz waren positive Gefühle, verglichen mit dieser kolossalen Unannehmlichkeit. ›So muß sich ein Fisch fühlen, der aufs Land geworfen wird‹, dachte Martin. ›So wie ich jetzt zappele, zappelt ein Fisch auf dem Trockenen! Mein Gott, mein Gott: Was habe ich getan, daß ich wie ein armes Fischlein zappeln muß …?!‹

      Seine Hände krampften sich ins Leintuch, vor dessen lauer Wärme ihn ekelte. Er reckte den Körper nach oben. Den Hinterkopf ins Kissen gepreßt, schrie er. Er erschrak vor der Unmenschlichkeit des eigenen Schreis. ›Ich habe wie ein Tier geschrien‹, spürte er mit Entsetzen. Er schrie nochmals. Schwester Rosa erschien in der Türe. Sie trug einen grauen Schlafrock mit bescheiden-schmalem rosa Besatz am Hals und an den Manschetten. Ihr Haar war ein wenig zerzaust; die Augen blickten sowohl schläfrig als erschrocken. »Was gibt es denn, Herr Korella?« fragte sie mit einer merkwürdig leisen Stimme. Martin sah, daß ihre Hände etwas zitterten. Endlich konnte er weinen.

      Martin weinte; es war, seit seiner Kindheit, zum ersten Mal. Er warf den Körper herum und preßte das nasse Gesicht in die Kissen. Es war ein sonderbares Gefühl, die Tränennässe auf den Wangen und Lippen zu spüren. »Das ist gut«, hörte er Schwester Rosa sagen, »weinen Sie sich nur aus, Herr Korella!« Er schämte sich, dem Mädchen sein verzerrtes, nasses Gesicht zu zeigen; deshalb behielt er die Stirne gegen das Kissen gepreßt. Das Weinen war zugleich eine Entspannung und ein neuer Krampf. Es schüttelte den Körper, und nun tat es weh im Gesicht: die Augen schmerzten, und es schmerzte der verzerrte, klagend geöffnete Mund. ›Ich werde niemals mehr aufhören können zu weinen‹, fühlte Martin. ›Mein Leben – alles, was ich bin und je war, vergeht in diesen unendlichen Tränen …‹

      Schwester Rosa, in ihrer Angst, verabreichte ihm mehrere beruhigende Tabletten – wozu Doktor Rüteli sie, für den Notfall, ermächtigt hatte. Martin, tränennassen Gesichtes, fiel in einen Dämmerschlaf, der freilich nicht tief genug war, um seine Qualen ganz aufzuheben. Er spürte noch die Schmerzen und die große Traurigkeit – abgemildert; wie durch einen Nebel hindurch.

      Als Rüteli um elf Uhr zur Visite erschien, fand er den Patienten in festem Schlaf. Er untersuchte ihn flüchtig und stellte, zu der aufmerksam, ja, devot lauschenden Nurse gewendet, fest: »Die somatischen Ausfallerscheinungen