Vom freundlichen Verlauf ihrer Unterredung mit Männe machte die Lindenthal ihrer kleinen Kollegin, der Siebert, sofort Mitteilung, und diese wieder konnte es kaum erwarten, Hendrik von der schönen Wendung der Dinge zu unterrichten.
So war die trübe Leidenszeit in Paris beendet! Keine einsamen Spaziergänge mehr, den Boulevard St. Michel hinunter, am Seine-Ufer oder durch die Champs-Élysées, für deren Schönheit man so blind gewesen war. Hatte Hendrik Höfgen jemals kühnen und rebellischen Träumen in einem öden Hotelzimmer nachgehangen? Hatte er irgendwann das heftige und auf eine düstere Art genußvolle Bedürfnis gespürt, sich zu reinigen, sich zu befreien, aufzubrechen zu einem neuen und wilden Leben? Er wußte es schon nicht mehr; während er die Koffer packte, war es vergessen. Trällernd vor Vergnügen und sehr in Versuchung, jähe Luftsprünge zu machen, eilte er zum Reisebüro Thomas Cook and Son bei der Madeleine, um sich die Schlafwagenkarte für den Zug nach Berlin zu bestellen.
Beim Rückweg zu seinem Hotel, das in der Nähe des Boulevard Montparnasse lag, kam Hendrik am Café du Dome vorüber. Das Wetter war milde, viele Leute saßen im Freien, die Tische und Stühle waren, unter einem leichten Zeltdach, bis weit auf das Trottoir hinausgerückt. Hendrik, dem vom Gehen warm geworden war, hatte Lust, sich hier für eine Viertelstunde niederzulassen und ein Glas Orangensaft zu trinken. Er blieb stehen; aber während er einen hochmütigen Blick über die schwatzende Menge gleiten ließ, überlegte er es sich anders. Sein Gedanke war: ›Wer weiß, was für Leute man hier treffen könnte. Vielleicht sind alte Bekannte darunter, die ich lieber vermeide. Ist dieses Café du Dome nicht ein Treffpunkt der Emigranten? Nein, nein, es ist wohl besser, weiterzugehen.‹ Er war schon im Begriff, sich abzuwenden, als sein Blick an einer Gruppe von Personen hängenblieb, die schweigend an einem der runden kleinen Tische saß. Hendrik fuhr zusammen. Er erschrak so sehr, daß er einen Stich in der Magengegend empfand und sich einige Sekunden lang nicht bewegen konnte.
Zuerst erkannte er Frau von Herzfeld; dann erst bemerkte er, daß neben ihr Barbara saß. Barbara war in Paris, sie war die ganze Zeit in seiner Nähe gewesen, er hatte Sehnsucht nach ihr gehabt, er hatte sie gebraucht wie noch nie, und sie hatte in derselben Stadt, im selben Viertel wie er, vielleicht nur ein paar Häuser entfernt von ihm, gewohnt! Barbara hatte Deutschland verlassen, und da saß sie auf der Terrasse des Café du Dôme, da saß sie neben Hedda von Herzfeld, mit der sie doch in Hamburg keineswegs befreundet gewesen war. Nun aber hatten besondere und harte Umstände diese beiden zueinander geführt … Sie saßen an einem Tisch. Beide schweigend, beide mit dem gleichen schwermütig sinnenden und tiefen Blick, der an den Gegenständen vorbei ins Ferne zu gehen schien.
›Wie blaß Barbara aussieht!‹ dachte Hendrik, dem zumute war, als säßen die Personen ihm gegenüber gar nicht in Wirklichkeit hier, sondern wären das Produkt seines erregten Hirnes, existierten nur in seiner Vorstellung und als eine Vision. Wenn sie lebten, warum bewegten sie sich dann nicht? Warum saßen sie so stumm und regungslos und hatten so traurige Augen?
Barbara hielt ihr schmales und bleiches Gesicht in die Hand gestützt. Zwischen ihren dunklen, zusammengezogenen Brauen trat ein Zug hervor, den Hendrik früher nicht an ihr bemerkt hatte: er mochte vom angestrengten, erbitterten Nachdenken kommen und gab ihrem Gesicht einen grüblerischen, beinah zornigen Ausdruck. Sie trug einen grauen Regenmantel, zwischen dessen hochgeschlagenem Kragen ein grellroter Schal sichtbar wurde. Durch diese Tracht wie durch die leidvoll gespannte Miene bekam ihre Erscheinung etwas Wildes und beinahe Fürchterliches.
Bleich war auch Frau von Herzfeld; aber auf der breiten und weichen Fläche ihres Gesichtes fehlte der drohende Zug, es zeigte nur sanfte Betrübtheit. Außer Barbara und Hedda gab es an dem Tisch noch ein Mädchen, das Hendrik nie gesehen hatte, und zwei junge Männer, von denen der eine Sebastian war: Höfgen erkannte ihn an der vorgestreckten Haltung des Kopfes, an den verschleierten, weich und nachdenklich schauenden Augen und an der Strähne aschblonden Haars, das ihm auf die gesenkte Stirn fiel. Hendrik wollte etwas rufen, wollte grüßen, sein spontanes Bedürfnis war, Barbara zu umarmen, mit ihr zu sprechen – über alles mit ihr zu sprechen, wie er es sich so oft gewünscht und vorgestellt hatte in all den einsamen Tagen. In seinem Kopf aber jagten sich die Überlegungen. ›Wie werden sie mich empfangen? Man wird Fragen an mich richten – wie könnte ich sie beantworten? Hier, in meiner Brusttasche, habe ich die Schlafwagenkarte nach Berlin, durch die Vermittlung von zwei blonden, freundlichen Damen bin ich schon so gut wie ausgesöhnt mit dem Regime, das diese Menschen da vertrieben hat und dem ich, Barbara gegenüber, so oft unversöhnliche Feindschaft geschworen habe. Was für ein verächtliches Lächeln würde dieser Sebastian mir zeigen! Und wie könnte ich Barbaras Blick ertragen, ihren dunklen, spöttischen, unbarmherzigen Blick? … Ich muß fliehen – keiner von ihnen scheint mich bisher bemerkt zu haben, sie schauen ja alle auf eine so sonderbare Art ins Leere. Ich muß machen, daß ich davonkomme, diese Begegnung ginge über meine Kräfte …‹
Die am Tisch rührten sich immer noch nicht, sie schienen durch Hendrik Höfgen hindurchzuschauen wie durch Luft. Sie saßen unbeweglich, als hätte ein großer Schmerz sie versteinert, während Hendrik davoneilte, mit kleinen und steifen Schritten, so wie jemand geht, der sich in großer Angst von einer Gefahr entfernen, aber doch verbergen möchte, daß er flieht.
Nach der ersten Probe sagte Lotte Lindenthal zu Höfgen: »Es ist ein Jammer, daß der General jetzt gerade so ungeheuer beschäftigt ist. Wenn er es irgend einrichten könnte, würde er sicher einmal auf die Probe kommen und uns ein bißchen bei der Arbeit zuschauen. Sie können sich gar nicht vorstellen, was für glänzende Ratschläge er uns Schauspielern manchmal gibt. Ich glaube, er versteht vom Theater ebensoviel wie von seinen Flugzeugen – und das will etwas heißen!«
Hendrik konnte es sich vorstellen, und er nickte respektvoll. Dann fragte er Fräulein Lindenthal, ob er sie in seinem Wagen nach Hause bringen dürfe. Sie gestattete es mit einem huldvollen Lächeln. Während er ihr den Arm bot, sagte er leise: »Es bedeutet eine so große, große Freude für mich, mit Ihnen spielen zu dürfen. In den letzten Jahren habe ich gar zu viel unter den Manieriertheiten meiner Partnerinnen zu leiden gehabt. Dora Martin hat die deutschen Schauspielerinnen durch das schlechte Beispiel ihres krampfhaften Stils verdorben – das war ja kein Theaterspielen mehr, sondern hysterisches Gemauschel. Und nun höre ich von Ihnen wieder einen klaren, einfachen, seelenvollen und warmen Ton!«
Sie schaute ihn dankbar an aus ihren etwas hervortretenden, veilchenblauen und dummen Augen. »Ich bin so froh, daß Sie mir das sagen«, flüsterte sie und drückte seinen Arm ein wenig fester an ihren. »Denn ich weiß, daß Sie mir nicht schmeicheln. Ein Mensch, der seinen Beruf so heilig ernst nimmt wie Sie, schmeichelt nicht in künstlerischen Dingen.«
Hendrik seinerseits entsetzte sich geradezu bei dem Gedanken, daß er geschmeichelt haben könnte. »Aber ich bitte Sie!« Er legte die Hand aufs Herz. »Ich – und schmeicheln! Meine Freunde pflegen mir vorzuwerfen, daß ich den Menschen gar zu gerne unangenehme Wahrheiten ins Gesicht sage.« Die Lindenthal freute sich, dies zu hören. »Ich mag aufrichtige Menschen gut leiden«, erklärte sie schlicht. – »Schade, daß wir schon da sind«, sagte Hendrik, der seinen Wagen vor einem stillen, eleganten Haus in der Tiergartenstraße halten ließ; denn hier wohnte Lotte Lindenthal. Er beugte sich über ihre Hand, um sie zu küssen, wobei er den grauledernen Handschuh ein wenig zurückstreifte, auf daß er mit seinen Lippen ihre milchig weiße Haut berühren könne. Sie schien diese kleine Keckheit zu übersehen oder doch jedenfalls nicht zu mißbilligen, ihr Lächeln blieb strahlend. »Tausend Dank dafür, daß ich Sie begleiten durfte!« sprach er, über ihre Hand geneigt. Während sie auf die Tür ihres Hauses zuging, dachte er: ›Wenn sie sich noch einmal umdreht, dann wird alles gut. Wenn sie aber gar winkt, dann ist es ein Triumph, und ich kann es weit bringen.‹ – Sie überquerte in aufrechter Haltung die Straße. Als sie vor der Haustür angekommen war, wendete sie den Kopf, zeigte eine verklärte Miene, und – welche Wonne! – sie hob winkend die Hand. Hendrik spürte einen Glücksschauer; denn Lotte Lindenthal rief schalkhaft: »Ta-taa!« Das war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Mit einem großen Seufzer der Erleichterung lehnte er sich zurück in die Lederpolster seines Mercedes-Wagens.