Während des Prologs im Himmel machte der illustre Zuschauer ein pflichtgemäß ergriffenes Gesicht. Die folgenden Szenen der Tragödie, ihr Ablauf bis zu jenem Moment, da Mephistopheles als Pudel sich in Faustens Studierzimmer geschlichen hat, schienen ihn etwas zu langweilen; während des ersten großen Faust-Monologs konnte man ihn mehrfach gähnen sehen, und auch der »Osterspaziergang« unterhielt ihn nicht: er flüsterte der Lindenthal etwas zu, was wahrscheinlich unfreundlichen Sinn hatte.
Hingegen wurde der Gewaltige animiert, sowie Höfgen-Mephistopheles die Szene betrat. Als der Doktor Faust ausrief: »Das also war des Pudels Kern! Ein fahrender Scholast? Der Kasus macht mich lachen«, da lachte auch der hohe Würdenträger, und zwar so laut und herzlich, daß niemand es überhören konnte. Lachend neigte sich der schwere Mann nach vorne, indem er seine beiden Arme auf die rotsamtene Brüstung der Loge stützte, und von nun ab verfolgte er mit amüsierter Aufmerksamkeit die Handlung – genauer gesagt: das tänzerisch gewandte, durchtrieben anmutige, ruchlos charmante Spiel Hendrik Höfgens.
Lotte Lindenthal, die ihren Männe kannte, begriff sofort: Dies ist Liebe auf den ersten Blick. Höfgen hat es meinem Dicken angetan – was ich nur zu gut begreife. Denn der Bursche ist ja auch zauberhaft, und in seinem schwarzen Kostüm, mit der diabolischen Pierrotmaske, wirkt er unwiderstehlicher als je. Ja, er ist sowohl drollig als bedeutend, er macht die reizendsten Sprünge wie ein Tänzer, zuweilen aber bekommt er drohende, tiefe und erschreckend flammende Augen, zum Beispiel nun, da er ausspricht:
»So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt,
mein eigentliches Element.«
An dieser Stelle nickte der Ministerpräsident bedeutungsvoll. Später, bei der Schülerszene – in der Hans Miklas übrigens eine auffallend steife und befangene Figur machte – schien der große Mann sich zu unterhalten wie in der drolligsten Posse. Seine gute Laune steigerte sich noch während der burlesken Vorgänge in Auerbachs Keller zu Leipzig, als Höfgen mit bösartigem Übermut das Lied vom König und dem Floh zum besten gab und schließlich den süßen Tokajerwein, den moussierenden Champagner aus dem Tisch für die besoffenen Rüpel bohrte – und ganz außer sich vor Vergnügen geriet der Dicke, als in der Finsternis der Hexenküche Höfgen die scharfe, klirrende Stimme des Höllenfürsten vernehmen ließ:
»Erkennst du mich? Gerippe! Scheusal du!
Erkennst du deinen Herrn und Meister?
Was hält mich ab, so schlag ich zu,
zerschmett’re dich und deine Katzengeister!
Hast du vorm roten Wams nicht mehr Respekt?
Kannst du die Hahnenfeder nicht erkennen?
Hab’ ich dies Angesicht versteckt?
Soll ich mich etwa selber nennen?«
Dies galt der Hexe, dem Schauerweib, die denn auch entsetzt in sich zusammenknickte. Der Fliegergeneral aber schlug sich vor Vergnügen die Schenkel: das blitzende Selbstbewußtsein des Bösen, der Stolz des Satans auf seinen gräßlichen Rang amüsierten ihn gar zu sehr. Sein fettes, grunzendes Gelächter wurde begleitet vom silbrigen Lachen der Lindenthal. – Nach der Hexenküchenszene war die Pause. Der Ministerpräsident ließ den Schauspieler Höfgen zu sich in die Loge bitten.
Hendrik wurde ganz weiß und mußte mehrere Sekunden lang die Augen schließen, als der kleine Böck ihm die bedeutsame Bestellung ausrichtete. Der große Augenblick war gekommen. Er würde dem Halbgott von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen … Angelika, die sich bei ihm in der Garderobe befand, brachte ihm ein Glas Wasser. Nachdem er es hastig geleert hatte, war er wieder dazu imstande, halbwegs aasig zu lächeln. Er konnte sogar sagen: »Das geht ja alles wunschgemäß und nach dem Programm!« – als machte er sich lustig über den entscheidenden Vorgang; aber seine Lippen waren blaß, da er dies spöttisch vorbrachte.
Als Hendrik die Loge der hohen Herrschaften betrat, saß der Dicke vorne an der Brüstung, seine fleischigen Finger spielten auf dem roten Samt. Hendrik blieb an der Tür stehen. ›Wie lächerlich, daß mein Herz so stark klopft!‹, dachte er und verhielt sich einige Sekunden lang stille. Dann hatte Lotte Lindenthal ihn bemerkt. Sie flötete: »Männe – du erlaubst, daß ich dir meinen hervorragenden Kollegen Hendrik Höfgen vorstelle«, und der Riese wandte sich um. Hendrik hörte seine ziemlich hohe, fette und dabei scharfe Stimme: »Aha, unser Mephistopheles …« Dieser Feststellung folgte ein Lachen.
Noch niemals in seinem Leben war Hendrik derartig verwirrt gewesen, und daß er sich seiner Aufregung schämte, steigerte sie vielleicht noch. Seinem getrübten Blick erschien auch die Kollegin Lindenthal phantastisch verändert. War es nur das blitzende Geschmeide, das ihr ein einschüchternd fürstliches Aussehen verlieh, oder war es der Umstand, daß sie sich in so vertrauter Nähe mit ihrem kolossalen Herrn und Beschützer zeigte? Jedenfalls wirkte sie auf Hendrik plötzlich wie eine Fee, und zwar wie eine üppig-liebliche, aber durchaus nicht ganz ungefährliche. Ihr Lächeln, das ihm sonst immer nur gutmütig und etwas blöde vorgekommen war, schien ihm nun auch rätselhafte Tücke zu enthalten.
Von dem fetten Riesen in der bunten Uniform aber, von dem pompösen Halbgott sah Hendrik in seiner Angst und zitternden Gespanntheit so gut wie nichts. Vor der ausladenden Gestalt des Gewaltigen schien ein Schleier zu hängen – jener mystische Nebel, der seit eh und je das Bild der Mächtigen, der Schicksalsbestimmenden, der Götter dem bangen Blick der Sterblichen verbirgt. Nur ein Ordensstern blitzte durch den Dunst, die beängstigende Kontur eines wulstigen Nackens ward sichtbar, und dann ließ wieder die zugleich scharfe und fette Kommandostimme sich vernehmen: »Treten Sie doch ein bißchen näher, Herr Höfgen.«
Die Leute, die plaudernd im Parkett geblieben waren, begannen aufmerksam zu werden auf die Gruppe in der Loge des Ministerpräsidenten. Man tuschelte, man drehte die Hälse. Keine Bewegung, die der Gewaltige machte, entging den Gaffenden, die sich zwischen den Stuhlreihen drängten. Man stellte fest, daß der Gesichtsausdruck des Fliegergenerals immer wohlwollender, immer vergnügter wurde. Nun lachte er, mit Rührung und Ehrfurcht konstatierte es das Volk im Parkett – der große Mann lachte laut, herzlich und mit weit geöffnetem Mund. Auch Lotte Lindenthal ließ ein perlendes Koloraturgelächter hören, und der Schauspieler Höfgen – höchst dekorativ in sein schwarzes Cape gewickelt – zeigte ein Lächeln, das auf seiner Mephisto-Maske wie ein triumphales und dabei schmerzliches Grinsen schien.
Die Unterhaltung zwischen dem Mächtigen und dem Komödianten wurde immer angeregter. Ohne Frage: der Ministerpräsident amüsierte sich. Was für wunderbare Anekdoten erzählte Höfgen, der es erreichte, daß der Fliegergeneral geradezu trunken schien vor Wohlgelauntheit? Alle im Parkett suchten von den Worten, die Hendriks blutrot gefärbte und künstlich verlängerte Lippen sprachen, einige zu erhaschen. Aber Mephisto sprach leise, nur der Mächtige vernahm seine erlesenen Scherze.
Mit schöner Gebärde breitete Höfgen die Arme unter dem Cape, so daß es wirkte, als wüchsen ihm schwarze Flügel. Der Mächtige klopfte ihm auf die Schulter: niemandem im Parkett entging es, und das respektvolle Murmeln schwoll an.