Dies war ein beängstigender Anfang – um so beängstigender für Hendrik, wenn er bedachte, daß hinter dem rachsüchtigen und arrivierten Poeten die Person des Propagandaministers stand. Dieser war in kulturellen Dingen beinah allmächtig, und er wäre es ganz gewesen, hätte es sich der zum preußischen Ministerpräsidenten avancierte Fliegeroffizier nicht in den Kopf gesetzt, auch sein Wörtchen mitzureden, was die Staatstheater betraf. An diesen war der Dicke, schon Lottens wegen, stark interessiert. So kam es zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen den zwei Gewaltigen – dem Herrn der Propaganda und dem Herrn der Flugzeuge. Hendrik hatte noch keinen von den beiden Halbgöttern mit eigenen Augen gesehen; aber er wußte, daß er die Feindschaft des einen nur dann eine Zeitlang würde aushalten können, wenn er der Protektion des anderen sicher war. Der Weg zum Ministerpräsidenten ging über die Schauspielerin. Hendrik mußte Lotte Lindenthal gewinnen.
In den ersten Wochen seines neuen Berliner Aufenthalts hatte er keinen anderen Gedanken im Kopf als nur diesen: Lotte Lindenthal muß mich lieben. Juwelenaugen und aasigem Lächeln hat noch keine widerstehen können, und schließlich ist auch sie nur ein Mensch. Diesmal geht es ums Ganze, ich muß alle meine Künste spielen lassen – Lotte soll erobert werden wie eine Festung. Mag sie hochbusig und kuhäugig sein, mag sie noch so provinziell und hausbacken aussehen mit ihrem Doppelkinn und ihren blonden Dauerwellen: für mich ist sie begehrenswerter als eine Göttin.
Und Hendrik kämpfte. Er war blind und taub für alles, was um ihn herum geschah, sein Wille, seine Intelligenz waren konzentriert auf das eine Ziel: die Kaptivierung der blonden Lotte. Nur für sie hatte er Augen, alle anderen übersah er. Die kleine Angelika war gründlich im Irrtum gewesen, wenn sie geglaubt hatte, Höfgen würde sie nun, aus Dankbarkeit, einer gewissen Aufmerksamkeit würdigen. Nur in den ersten Stunden nach seiner Ankunft war er nett zu ihr. Kaum aber, daß sie ihn der Lindenthal vorgestellt hatte, schien Angelika nicht mehr für ihn zu existieren. Sie mußte sich ausweinen bei ihrem Filmregisseur, Hendrik aber ging auf sein Ziel los, es hieß Lotte.
Bemerkte er, wie die Straßen von Berlin sich verändert hatten? Sah er die braunen und die schwarzen Uniformen, die Hakenkreuzfahnen, die marschierende Jugend? Hörte er die kriegerischen Lieder, die auf den Straßen, aus den Radioapparaten, von der Filmleinwand klangen? Achtete er auf die Führerreden mit ihren Drohungen und Prahlereien? Las er die Zeitungen, die beschönigten, verschwiegen, logen und doch genug des Entsetzlichen verrieten? Kümmerte er sich um das Schicksal der Menschen, die er früher seine Freunde genannt hatte? Er wußte nicht einmal, wo sie sich befanden. Vielleicht saßen sie an irgendeinem Caféhaustisch in Prag, Zürich oder Paris, vielleicht wurden sie in einem Konzentrationslager geschunden, vielleicht hielten sie sich in einer Berliner Dachkammer oder in einem Keller versteckt. Hendrik legte keinen Wert darauf, über diese düsteren Einzelheiten unterrichtet zu sein. ›Ich kann ihnen doch nicht helfen‹ – dies war die Formel, mit der er jeden Gedanken an die Leidenden von sich wies. ›Ich bin selbst in ständiger Gefahr – wer weiß, ob nicht Cäsar von Muck morgen schon meine Verhaftung durchsetzen wird. Erst wenn ich meinerseits definitiv gerettet bin, werde ich anderen vielleicht nützlich sein können!‹
Nur widerwillig und mit einem Ohr hörte Hendrik zu, als man ihm von den Gerüchten Mitteilung machte, die über das Schicksal Otto Ulrichs’ im Umlauf waren. Der kommunistische Schauspieler und Agitator, der sofort nach dem Reichstagsbrand verhaftet worden war, habe mehrere jener grauenhaften Prozeduren, die man »Verhöre« nannte und die in Wahrheit unbarmherzige Folterungen waren, auszustehen gehabt. »Das hat mir jemand erzählt, der im Columbiahaus in der Zelle neben Ulrichs untergebracht war.« So berichtete mit angstvoll gedämpfter Stimme der Theaterkritiker Erding, der bis zum 30. Januar 1933 zur radikalen Linken gehört hatte und aggressiver Vorkämpfer einer streng marxistischen, nur dem Klassenkampf dienenden Literatur gewesen war. Nun stand er im Begriff, seinen Frieden mit dem neuen Regime zu machen. Wie sehr hatten alle Schriftsteller, die einer bürgerlich-liberalen oder gar einer nationalistischen Gesinnung verdächtig waren, einst vor Doktor Erding gezittert! Er, der wachsamste und unnachsichtigste Priester einer marxistischen Orthodoxie, hatte sie mit dem großen Bannspruch belegt, hatte sie verdammt und vernichtet, indem er sie als ästhetizistische Söldlinge des Kapitalismus denunzierte. Der »rote Literaturpapst« war nicht geneigt gewesen, zu nuancieren und feine Unterscheidungen zu treffen, seine Meinung war: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, wer nicht nach den Rezepten schreibt, die ich für die gültigen halte, der ist ein Bluthund, ein Feind des Proletariats, ein Faschist – und wenn er es noch nicht weiß, dann wird er es von mir, dem Feuilletonchef des »Neuen Börsenblattes«, erfahren.
Doktor Erdings kategorische Urteile wurden von allen, die sich zur linken Avantgarde rechneten, heilig ernst genommen, obwohl sie in den Spalten einer schwer kapitalistischen Zeitung erschienen. Denn zu jener Zeit liebten es die Börsenblätter, sich den Scherz eines marxistischen Feuilletons zu leisten – es gab eine pikante Note und konnte niemanden ernstlich stören. Des Lebens Ernst herrschte erst im Handelsteil. Unter dem Strich – wohin kein seriöser Geschäftsmann jemals schaute – durfte ein »roter Papst« sich austoben.
Doktor Erding hatte sich jahrelang ausgetobt und war zu einer der entscheidenden Instanzen in allen Dingen marxistischer Kunstbetrachtung geworden. Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, legte der jüdische Chefredakteur des »Neuen Börsenblattes« sein Amt nieder. Doktor Erding aber durfte bleiben, da er nachweisen konnte, daß alle seine Ahnen, väterlicher- wie mütterlicherseits, »arisch« waren, und daß er niemals einer der sozialistischen Parteien angehört hatte. Ohne lange zu zaudern, verpflichtete er sich, das Feuilleton des »Neuen Börsenblattes« von nun ab im selben streng nationalen Geiste zu redigieren, der jetzt die Spalten des politischen Teils erfüllte und noch bis in die »Gemischten Nachrichten aus aller Welt« spürbar war. »Gegen die Bürger und Demokraten bin ich ja sowieso immer gewesen«, sprach Doktor Erding schlau. Wirklich konnte er, wie bisher, weiter gegen den »reaktionären Liberalismus« wettern – nur das Vorzeichen seiner antiliberalen Gesinnung hatte sich geändert.
»Scheußlich, diese Geschichte mit Otto«, sagte der wackere Doktor Erding und sah kummervoll aus. Er hatte das revolutionäre Kabarett »Sturmvogel« in vielen Artikeln als das einzige theatralische Unternehmen der Hauptstadt, das Zukunft habe und überhaupt der Beachtung wert sei, bezeichnet. Ulrichs hatte zum intimsten Kreise des berühmten Kritikers gehört. »Scheußlich, scheußlich«, murmelte der Doktor und nahm nervös seine Hornbrille ab, um ihre Gläser zu putzen.
Auch Höfgen war der Ansicht, daß es scheußlich sei. Sonst hatten sich die beiden Herren nicht viel zu sagen. Sie fühlten sich nicht recht wohl, der eine in der Gesellschaft des andern. Als Ort ihres Zusammentreffens hatten sie ein abgelegenes, wenig besuchtes Café gewählt. Sie waren beide kompromittiert durch ihre Vergangenheit, beide standen vielleicht immer noch im Verdacht