Wind über der Prärie. Regan Holdridge. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Regan Holdridge
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742769848
Скачать книгу
auf den Wagenboden. Dann wiederum hörte sie Doktor Retzner leise fluchen und die ganze Zeit über vernahm sie dieses seltsame Geräusch – manchmal schmatzend, manchmal kratzend. Sie wusste nicht, wie lange sie so dagesessen hatte, vielleicht zehn, vielleicht zwanzig Minuten oder sogar eine halbe Stunde. Endlich jedoch sagte Hardy. „Gut, Sie können sie loslassen.“

      Langsam richtete Julie sich auf. Sie fühlte sich entsetzlich erschöpft und ihre Hände zitterten. Geertje war noch immer ohne Bewusstsein.

      „Was ist mit ihr?“

      Der junge Arzt rang sich zu einem zuversichtlichen Lächeln durch.

      „Der Whiskey, die Schmerzen...sie wird es schaffen, hoffe ich.“ Er seufzte und machte einen Knoten in einen Lappen, sodass niemand sehen konnte, was darin steckte, doch Blut durchweichte ihn von innen heraus. „Wenn ich nur in sie hineinsehen könnte und wüsste, ob ich wirklich alles herausbekommen habe.“ Er schüttelte kurz den Kopf, dann übergoss es seine Hände erneut mit Whiskey und holte danach seine restlichen Instrumente aus dem Topf, um sie wieder in seiner Tasche zu verstauen. „Sagen zu müssen, ich habe alles getan, was in meiner Macht steht und doch nicht sicher sein zu können, ob sie durchkommt oder nicht – das ist das Schlimmste.“

      Sacht legte Julie eine Hand auf die seine. Sie lächelte mitfühlend, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Sie fand keine Worte für das, was sie empfand und er verstand sie auch so. Aufmunternd tätschelte er ihren Unterarm.

      „Wir müssen Torbjörn Bescheid geben und uns allmählich schlafen legen. Sonst sind wir beide die nächsten Patienten.“

      Er richtete Geertjes Unterröcke und deckte sie zu, dann kletterte er aus dem Wagen. Den zugeknoteten Lappen nahm er mit. Julie beeilte sich, ihm zu folgen und nahm seine Tasche an sich.

      Torbjörn musste die ganze Zeit über zwischen den Wagen hin und her gelaufen sein, denn er kam von rechter Seite angestürmt, als er Doktor Retzner erblickte. „Endlich! Das hat ja ewig gedauert!“

      Die meisten Lagerfeuer waren mittlerweile vollständig heruntergebrannt und Hardy konnte das Gesicht des jungen Norwegers nicht erkennen.

      „Tut mir leid, schneller ging es nicht.“ Er wartete, bis Julie neben ihm stand, ehe er fortfuhr: „Ihre Frau hat das Kind leider verloren.“

      Eine lange Minute herrschte Stille. „Das Kind?“, wiederholte Torbjörn verblüfft. Es war offensichtlich, dass er keine Ahnung davon gehabt hatte. „Sie...Sie meinen...“

      „Ja“, entgegnete Hardy bedacht. „Es liegt noch drinnen, im Wagen. Ich denke, Sie werden es sicherlich morgen früh beerdigen wollen.“

      „Hmm“, machte der junge Mann hilflos und biss sich auf die Lippen. „Was...was ist mit Geertje?“

      Der junge Arzt musste sich einen Ruck geben. „Das werden die nächsten Stunden zeigen“, gab er ehrlich zu. „Sie wird bald wieder zu sich kommen. Passen Sie genau auf, ob Sie irgendwelche Veränderungen an ihr bemerken. Und sollte sie Blutungen oder Fieber bekommen, holen Sie mich sofort, ganz gleich um welche Uhrzeit, verstanden?“

      Torbjörn nickte stumm. „Darf ich jetzt zu ihr?“

      „Natürlich. Gute Nacht.

      „Gute Nacht, Doktor und vielen Dank.“ Der junge Norweger kletterte in seinen Wagen und ließ Hardy und Julie allein zurück.

      „Wie spät es wohl sein mag?“, fragte Julie leise und gähnte.

      Hardy lächelte. „Gehen Sie schlafen, Julie-Mädchen. Es ist spät und ich weiß nicht, ob wir nicht in ein paar Stunden wieder gebraucht werden.“ Er deutete auf den seltsam anmutenden Beutel in seiner Hand. „Ich muss das vergraben. Nicht, dass noch Wölfe oder andere Tiere das Blut riechen.“

      Er ging davon, um einen Spaten zu holen und ließ Julie allein zurück mit ihrer Verwirrung und den tausend Fragen, die sie beschäftigten.

      Der nächste Morgen brach schneller herein als erwartet und weder Hardy, noch Julie fühlten sich ausgesprochen wohl in ihrer Haut. Sie waren müde und erschöpft von den Geschehnissen, über die Friedrich sogleich unterrichtet wurde. Geertje hatte die Nacht gut überstanden. Es waren keine Blutungen aufgetreten und auch kein Fieber und obwohl sie noch sehr schwach und blass war, konnte Hardy doch guten Gewissens behaupten, dass sie es vermutlich schaffen würde.

      Zwei Männer halfen Torbjörn beim Ausheben des kleinen Grabes und noch am frühen Vormittag fand die Beerdigung für das kleine Mädchen statt, das nicht einmal ein halbes Jahr alt geworden war und nie das Licht dieser Welt hatte erblicken dürfen. Geertje wollte dabei sein, doch Doktor Retzner erlaubte es nicht.

      „Sie müssen eine Woche lang im Wagen liegenbleiben, haben Sie mich verstanden?“

      „Aber, Doktor...“, wollte die junge Frau protestieren, doch Hardy ließ sie nicht aussprechen: „Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist und wenn Sie jemals Ihre neue Heimat zu sehen bekommen wollen, dann tun Sie, was ich Ihnen sage!“

      Seine eindringlichen Worte zeigten Wirkung und Geertje blieb mit Julie im Wagen zurück, wo sie haltlos weinte. Hilflos saß Julie neben ihr und streichelte ihren Rücken, während Geertje von lautem Schluchzen geschüttelt wurde. Sie fühlte tiefes Mitleid mit der jungen Frau, doch konnte sie ihren Kummer nicht wirklich nachvollziehen. Sie erschrak ein wenig über dieser Erkenntnis. Hatte ihr Vater sie nicht Zeit ihres Lebens gelehrt, dass es nichts Wertvolleres gab, als das Leben selbst?

      Nein, sie konnte es nicht, denn in ihrer Vorstellung wollte sie nicht zulassen, dass der Tod etwas Endgültiges, etwas alles Beendendes war. Es musste noch mehr geben, was danach kam, ein neues Leben vielleicht oder ein Dasein als Engel – irgendetwas! Julie senkte den Kopf und schloss die Augen. Nein, ihrem Vater durfte sie davon nichts anvertrauen. Es gab überhaupt niemanden, der ihre Überlegungen diesbezüglich hätte begreifen können, niemanden, mit dem sie darüber sprechen konnte und der sie vielleicht verstand.

      Vielleicht, dachte sie, bin ich ein törichtes, dummes Mädchen, ohne Verstand und Benehmen. Wahrscheinlich bin ich genau das.

      Die Tage zogen dahin, ohne, dass jemand es bewusst wahrnahm. Sonnenuntergang und Tagesanbruch schienen sich so schnell abzuwechseln, dass sie darüber aufhörten zu zählen, wieviele seit dem Aufbruch aus St. Louis mittlerweile hinter ihnen lagen. Bei Tage ging es ohne Unterlass durch rauhes, felsiges Land, mit all seinen unergründlichen Weiten und den unbekannten Gefahren, wie giftige Schlangen und Kojoten. Schließlich erreichten sie einen reißenden Fluss, der ungeheure Kräfte besaß und der von einem See zu einem anderen führte, wie Charlie ihnen erklärte. Sie folgten ihm ein gutes Stück in südlicher Richtung, bis in ebeneres Grasland und er sich dort in ein flaches, fast zahmes Wasser verwandelte. An einer besonders ruhigen Stelle konnten Menschen, Tiere und Wagen ungefährdet ans gegenüberliegende Ufer gelangen, wo ihr Treckführer bestimmte, dass das Lager für die kommende Nacht aufgeschlagen wurde. In zwei Tagen, so seine Einschätzung, würden sie Fort Gibson erreicht haben.

      „Stimmt etwas nicht?“, fragte Julie, als sie den finsteren Blick Hardy Retzners nach der Verkündung dieser Nachricht bemerkte.

      „Nein“, log dieser hastig. „Alles in Ordnung! Alles okay, wie wir jetzt sagen müssen, nicht wahr?“

      Es klang ironisch und Julie zog es vor, den Mund zu halten und ihrer Mutter bei der Zubereitung des Abendessens zu helfen, wie es ihre Pflicht war. Friedrich hatte sich in ein Gespräch mit einem der anderen Siedler vertieft und so blieben Hugh und Hardy alleine am Wagen zurück, um den Maultieren den Schweiß von den Leibern zu waschen, nach ihren Hufen zu sehen und sie an den Fluss zum Tränken zu führen.

      Die Striche, mit denen Doktor Retzner dem dunkelbraunen, kräftigen Tier mit dem alten Fetzen Stoff über das Fell fuhr, wurden mit jeder Minute wütender, bis Hugh es schließlich nicht länger aushielt: „Wenn Sie es meiner Schwester schon nicht anvertrauen wollen – das Vieh kann wohl kaum etwas für Ihre Laune!“

      Ein wenig beschämt senkte der junge Arzt den Kopf und hielt inne.

      „Nein“, murmelte er undeutlich. „Sie haben ganz