„Lassen Sie mich und Julie nach ihr sehen! Warten Sie hier!“
Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes verriet, dass er der Aufforderung nur ungern nachkam, doch er wagte nicht, zu widersprechen und ließ Doktor Retzner und das Mädchen gewähren. Hastig kniete Hardy sich neben die junge, blonde Frau.
„Zünden Sie eine Lampe an“, bat er Julie, die nach einem kurzen Rundumblick nur eine einzige entdecken konnte. Ihr Schein verbreitete nur schwaches Licht, doch es reichte aus, um den Ernst der Lage erkennen zu lassen.
Vorsichtig legte Doktor Retzner der jungen Norwegerin seine Hand auf die schweißbedeckte Stirn. Danach tastete er ihren Bauch ab und seufzte.
„Haben Sie gewusst, dass Sie guter Hoffnung sind?“, fragte er sehr leise, sodass Torbjörn es draußen nicht verstehen konnte.
Geertje nickte heftig. Sie schluchzte leise auf. „Ich...ich glaube schon, aber ich war mir nicht sicher.“
„Sind Sie heute gestürzt? Oder haben Sie irgendwelche schweren Gegenstände hochgehoben?“, fragte Hardy leise, sie sehr genau beobachtend.
Wieder schluchzte die junge Frau auf, diesmal unbeherrschter. „Ich...bin...vom Wagen gefallen, vorhin, als...als wir hier angekommen sind, aber...es war nicht schlimm! Wirklich nicht!“
Hardy nickte. Ein schmerzlicher Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. Er gab Julie einen Wink.
„Sie müssen ihr so viel Whiskey einflößen, wie Sie nur fertigbringen! Verstanden?“ Er sprach nun Deutsch mit ihr, um sicherzugehen, dass niemand sonst sie verstehen konnte. Er griff in seine Tasche und brachte eine Flasche zum Vorschein.
Julie nickte nervös. Sie wollte wissen, was mit Geertje los war und wagte doch nicht, danach zu fragen, denn schon beugte Doktor Retzner sich nach draußen und befahl Torbjörn mit leiser Stimme: „Nehmen Sie einen der Männer mit, die Wache stehen und holen Sie einen Topf mit frischem Wasser! Den stellen Sie auf eines der Feuer, bis es sprudelnd kocht! Ich brauche frisches, kochendes Wasser, klar?“
„Ja...ja...“, stammelte der bemitleidenswerte, ahnungslose Ehemann und rannte davon, in die dunkle Nacht hinaus.
„Und jetzt?“, wollte Julie wissen. Sie gab Geertje einen Zinnbecher nach dem anderen zu trinken. Die junge Frau schüttelte sich.
„Ist das eine eklige Medizin!“
„Mehr!“, sagte Doktor Retzner nur, während er bereits seinen Instrumentenkoffer öffnete. „Ich wünschte, ich hätte etwas Äther bei mir, aber daran habe ich nicht gedacht, muss ich zu meiner Schande gestehen. Ich bin mir sicher, Doktor Stankovski hätte mir welchen mitgegeben.“
Der Alkohol zeigte bereits nach wenigen Bechern seine Wirkung, denn Geertje trank sonst nie und sie sank in einen weggetretenen Dämmerzustand.
„Was fehlt ihr denn?“, fragte Julie schließlich, als sie sicher war, dass Geertje nicht mehr bewusst wahrnahm, was sie sprachen und drückte den Pfropfen zurück auf die Flasche.
„Sie wird das Kind verlieren“, erwiderte Hardy ernst und schob den Rock mitsamt den Unterröcken nach oben. „Wir müssen es holen.“
Julie schluckte. „Es...holen?“
Sie war nur zweimal bisher bei einer Geburt dabei gewesen. Das erste Mal bei der Frau des Bürgermeisters. Bei dieser war es so schnell gegangen, dass sie das Kind bereits auf dem Weg ins Schlafzimmer, auf der Treppe bekommen hatte und das zweite Mal bei einer Farmersfrau. Auch bei ihr hatte es keine drei Stunden gedauert, ehe ihr zwölftes Kind das Licht der Welt erblickt hatte. Keine der beiden Frauen hatten geschwitzt oder sich vor Schmerzen gewunden wie Geertje hier und Julie fragte sich, was der Unterschied war, denn immerhin waren die beiden Säuglinge der anderen Frauen bereits voll ausgebildet gewesen und viel größer als Geertjes Kind im Augenblick noch sein musste. Unter ihren Röcken zeichnete sich nur ein winziges Bäuchlein ab.
Ein mulmiges Gefühl überkam Julie, denn sie spürte, dass dies hier etwas anderes, etwas Bedrohliches war. Sie beobachtete Hardy Retzner dabei, wie er Geertje an ihrer intimsten Stelle untersuchte, die sonst nur ihr Ehemann zu sehen bekam und sie fragte sich, wie Torbjörn wohl darauf reagieren würde, wenn er das sehen könnte.
Schließlich richtete Hardy Retzner sich auf. Er seufzte tief, als er die nächste Wehe durch den Körper der jungen Frau gehen sah und hörte, wie sie leise aufstöhnte.
„Vielleicht haben wir Glück und ihr Körper stößt den Fötus alleine aus. Wir müssen abwarten.“
Von draußen erklangen Schritte und er beeilte sich, den Topf mit heißem Wasser bereits draußen entgegenzunehmen, sodass Torbjörn nicht ins Innere sehen konnte.
„Was ist mit ihr, Doktor?“, hörte Julie ihn verzweifelt fragen. „Sie schafft es doch, nicht wahr?“
Sie merkte, wie Hardy einen Moment zögerte, ehe er antwortete: „Natürlich wird sie es schaffen! Aber bitte warten Sie draußen, ich rufe Sie dann, wenn wir soweit sind!“
Er stellte den Topf neben sich ab, aus dem das kochende Wasser dampfte und zog den Leinenstoff hinter sich zu, sodass von draußen nicht hereingesehen werden konnte. Dann krempelte er sich die Ärmel seines Hemds hoch.
„Machen Sie das auch!“, befahl er Julie, ehe er nach dem Whiskey griff, mit dem er seine Hände übergoss und die Flasche dann an Julie weiterreichte. „Wir müssen sehr sauber arbeiten, wenn wir sie retten wollen.“
Julie schluckte. Zum ersten Mal spürte sie die enorme Verantwortung, die auf den Schultern eines Arztes lastete und sie merkte, wie ihr Herz zu rasen begann. Ganz ruhig, sagte sie sich, es kann dir nichts passieren! Doch die Angst vor dem Unbekannten blieb.
Geertje stöhnte wieder auf und wand sich unter einer erneuten Wehe.
„Halten Sie sie fest! Sie macht es nur schlimmer“, sagte Hardy, während er aus seinem Instrumentenkoffer die unterschiedlichsten Geräte herausnahm und in das kochende Wasser legte.
Julie fasste die junge Frau, nur ein paar Jahre älter als sie selbst, an den Schultern und drückte sie zu Boden.
„Gut so.“ Hardy schob die Röcke über Geertjes Schenkel nach oben und schob ihre Beine auseinander. Julie schluckte, peinlich berührt. Sie fragte sich, ob es ihr wohl eines Tages auch so ergehen würde, wenn sie ein Kind erwartete und eine seltsame Reaktion der Abwehr gegen dieses Geschehen machte sich in ihr breit. Sie wusste, dass Geertje sich sehr schämen würde, wenn sie wüsste, dass ein fremder Mann – auch, wenn er Arzt war – sie dort untersuchte, wo niemand das Recht dazu hatte.
„Ich glaube, wir haben Glück“, sagte Hardy in Julies Gedanken hinein. Er atmete leise auf. „Da ist es.“
Julie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, wovon der junge Österreicher sprach. Dann lag es vor ihr – winzig, mit einer eigenartigen Kopfform, doch eindeutig ein Mensch, mit noch unausgebildeten Armen und Beinen, der tote Fötus. Übelkeit stieg in ihr hoch und sie musste den Blick davon abwenden. Eilig wickelte Hardy es in ein Stück Stoff, der im Wagen lag, um sich dann zu dem Topf herumzudrehen, aus dem immer noch das Wasser dampfte und es unerträglich heiß werden ließ unter dem Leinenstoff des Wagens. Jedenfalls erschien es Julie so.
„Machen Sie jetzt bitte nicht schlapp!“, raunte Hardy leise, als er im Schein der Lampe ihr weißes Gesicht bemerkte. „Ich brauche Sie hier dringender als jemals zuvor!“
Julie nickte tapfer und zwang sich, ihren Blick auf Geertje zu richten, die bewusstlos vor ihr lag, die Augen geschlossen, jedoch ruhig atmete.
„Ich muss ihren Uterus ausschaben“, erklärte Hardy, als spräche er zu einem unerfahrenen Medizinstudenten, wie er es immer tat, wenn sie dabei war, wenn er arbeitete. „Sonst verblutet sie. Ich hoffe, ich erwische alles.“
Julie wollte schon fragen, wovon er alles erwischen musste, verkniff es sich jedoch im letzten Moment. Sie beobachtete den Arzt dabei, wie er mit einem anderen Instrument eines