„Das dürfen Sie nicht erlauben!“, widersprach Doktor Retzner ernst. „Der Junge ist viel zu zart! Er würde das nicht durchstehen!“
„Aber...“
„Ihre Tochter, Pastor, sie kann das. Wenn jemand es durchhalten kann, dann Juliane!“
„Das Mädchen?“ Friedrichs Augen weiteten sich. Er glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
„Ja, Pastor, sie schafft das! Sie hat einen Dickkopf und ist zäh. Das konnte ich in den vergangenen Wochen häufig beobachten. Sie hält was aus! Geben Sie ihr die Möglichkeit, sich zu beweisen!“
Zweifeld runzelte Friedrich die Stirn. „Wir haben noch bis morgen Zeit! Bis dahin werde ich mir das durch den Kopf gehen lassen, aber jetzt lassen Sie uns zum Abendessen gehen. Meine Frau wartet bestimmt schon.“
Das Wetter schien kein Einsehen mit ihnen haben zu wollen, denn es regnete in Strömen, als am anderen Morgen die aufsteigende Helligkeit im Osten die Nacht vertrieb. Das Trommeln auf dem Dach des Pfarrhauses weckte Friedrich und das erste, was er wahrnahm, war der Geruch von frischgebackenem Brot, der durch den Flur und die Zimmer zog. Meine Güte! Wie lange musste seine Frau bereits wach sein, wenn sie schon frisches Brot gebacken hatte?
Langsam richtete er sich auf. Er zog sich an und warf einen Blick durch die angelehnte Tür des angrenzenden Schlafzimmers. Hubert und Nikolaus schliefen noch, er würde sie später wecken. Juliane war nicht hier und auch ihre Wolldecke schon fort. Vermutlich hatte sie bereits begonnen, den Wagen zu beladen. Friedrich warf einen Blick die Treppe hinab, in den kleinen Wohnraum des Pfarrhauses. Dort stand Luise am Herd und kochte ein paar Eier. Hardy Retzner war ebenfalls nicht zu sehen.
Nun, dachte Friedrich, kein Wunder. Er wird die Nacht auf dem Fußboden nicht sehr angenehm verbracht haben. Wahrscheinlich hilft er Juliane.
Die Vorstellung ließ ihn schmunzeln. Wenn sich da nicht etwas anbahnte zwischen den beiden, dann fraß er einen Besen! Es war doch eindeutig, dass die zwei sich gern hatten und sobald sie in Oregon angelangt sein würden, musste er sich Doktor Retzner einmal zur Brust nehmen und ihm dringend ans Herz legen, endlich um die Hand seiner Tochter anzuhalten!
Keine vierzig Minuten später hatten auch seine beiden Söhne gefrühstückt, als es auf einmal an der Tür klopfte und ein junger Mann den Kopf zur Tür herein streckte.
„Der Doktor schickt mich! Alle sollen sofort ihre Sachen packen und zur Scheune hinüberkommen! In einer Stunde geht es los!“
„Du lieber Himmel!“, entfuhr es Luise und sie sprang hastig auf. „So bald schon?“
„Ich habe noch überhaupt nichts zusammengepackt!“, erklärte Hubert und erhob sich ebenfalls.
„Ich auch nicht!“, rief Nikolaus und beeilte sich, ihm zu folgen.
„Dann trödelt nicht länger herum!“, bat Friedrich und hob die Arme. „Wir müssen zusehen, dass wir rechtzeitig zu den anderen stoßen!“
Auf dem Platz vor dem Stall hatten sich die Wagen und Gespanne aufgereiht, fertig für die Abreise. Stimmen schrien, riefen, einige lachten, andere schimpften. Überall herrschte Hektik und Aufregung. Irgendwo dazwischen, etwas an den Rand gedrängt, standen Julie und Doktor Retzner bei ihrem Wagen und warteten.
„Haben Sie Ihre Sachen alle schon eingepackt?“, wollte er jetzt von ihr wissen.
Julie nickte. „Ja, habe ich gleich heute Morgen verstaut, bevor irgendjemand wach war.“ Sie blickte zufrieden an sich hinab. Sie trug ihren Reitrock mit den Stiefeln und dazu eine Bluse und ein Regencape darüber. Zwar ließen die Schauer ein wenig nach, je länger der Morgen andauerte, doch das Wetter zeigte noch immer keine Gnade.
„Hoffentlich bleibt es nicht den ganzen Tag so scheußlich!“ Doktor Retzner hob den Blick gen Himmel und bezweifelte, dass seine Bitte erhört werden würde. „Oh!“, machte er dann, denn seine Augen hatten vier Personen entdeckt, die zielstrebig auf sie zueilten. „Jetzt gibt’s gleich ein großes Donnerwetter!“
Julie straffte die Schultern und machte ein störrisches Gesicht. Sie war offensichtlich bereit, es auf einen Kampf mit ihren Eltern ankommen zu lassen. Hardy Retzner atmete tief durch und lehnte sich demonstrativ unbeteiligt an Hans, eines der beiden Maultiere, der gemeinsam mit seiner Kumpanin Otto die Hektik um sich herum mit stoischer Ruhe ignorierte.
„Na, alles bereit?“, rief Friedrich, noch bevor er sie erreicht hatte. „Sind wir startklar?“
„Sind wir!“, versicherte der Österreicher und kratzte sich ahnungsvoll den Hals.
„Tut mir leid, dass wir erst jetzt kommen“, entschuldigte Friedrich sich und winkte seiner Familie, damit sie die restlichen Gepäckstücke nach hinten brachten, um sie im Wagen zu verstauen. Es war nicht viel: Ihre Koffer, die sie bereits aus Bremerhaven mitgebracht hatten, das Zinngeschirr, die Töpfe und Pfannen und die restlichen Decken. Mehr besaßen sie nicht. „Wir hatten nicht damit gerechnet, dass der Aufbruch so plötzlich erfolgt. Man hätte einem wenigstens gestern Abend Bescheid geben können, dass wir in aller Herrgottsfrüh schon die Stadt verlassen.“
‚Man’ wäre ihr Treckführer gewesen, der sich jedoch seit der Eintreibung seines Vorschusses nicht mehr um sie gekümmert hatte.
„Ich glaube, es geht los!“, schrie auf einmal jemand neben ihnen und kletterte auf seine Kutsche. Tatsächlich – Charlie ohne Nachnamen ritt auf einem großen, schwarzen Hengst zwischen ihnen hindurch. Er verkündete laut brüllend, dass sich alle in anständiger Reihenfolge hinter ihm einordnen sollten, sobald er das Zeichen zum Aufbruch geben würde.
„Nun, gut“, entschied Friedrich. „Hubert, du übernimmst das Gespann! Luise, Nikolaus, rauf mit euch!“
Er half seiner Frau auf den hohen Kutschbock hinauf, ehe sein jüngster Sohn flink hinterher kletterte. Hugh musste sich von Doktor Retzner stützen lassen, um auf der anderen Seite hinaufzukommen. Er war noch zu schwach, als dass er es alleine hätte schaffen können.
Friedrich beobachtete, wie die Wagen vor ihnen sich in Bewegung setzten; einer reihte sich hinter den nächsten. Eine eigenartige Stimmung überkam ihn. Hätte er geahnt, dass vergangenen Sonntag sein letzter Gottesdienst in der Kirche gewesen war – er hätte sich gebührend von den Menschen hier verabschiedet, die ihm ans Herz gewachsen waren. Komisch, dachte er, wie schnell sich der Mensch doch an etwas gewöhnt.
Die beiden Maultiere zogen ihren Wagen mit einem Ruck an und das riss Friedrich aus seinen Gedanken. Er drehte sich herum, um zu sehen, ob Doktor Retzner und Julie ihm folgten. Sie schienen auf der anderen Seite des Wagens zu sein, denn er hörte seine Tochter mit dem Österreicher auf Deutsch reden.
Zunächst mussten sie ein Stück den Weg zurück, den sie gekommen waren, um dann auf die Hauptstraße von St. Louis einzubiegen, die sie weiter nach Westen bringen würde. Das Lager blieb hinter ihnen zurück, mitsamt all den restlichen Menschen, die voller Hoffnung waren, irgendwo in diesem Land eine bessere Zukunft zu finden. Sie würden auch nicht mehr lange hier bleiben. Einige waren schon vor ihnen aufgebrochen, immer weiter, den Oregon Trail entlang, voller Zuversicht und überschäumendem Herzen, andere warteten auf einen anderen Treck oder wollten in einer anderen Himmelsrichtung ihr Glück versuchen.
„Jetzt geht’s noch ein letztes Mal durch die Stadt“, sagte Hardy Retzner auf Deutsch mit breitem, österreichischen Akzent. „Und dann heißt es endgültig ‚Lebewohl!‘“
„Sie werden doch nicht sentimental werden?“, fragte Friedrich streng, doch es gelang ihm nicht recht, seine eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten. Auch er verspürte einen Abschiedsschmerz im Herzen. Wenn er ehrlich war, hätte er nichts dagegen einzuwenden gehabt, hierzubleiben, doch ihr Ziel hieß Westküste. Nur deswegen war er in dieses fremde Land gekommen, deshalb hatte er Deutschland den Rücken gekehrt.
Sie gingen nun hinter dem Wagen und seine Augen wanderten hinüber zu seiner Tochter, die eifrig voranstapfte. Er sah sie zum ersten Mal an diesem Tag – er stutzte.
„Was...?“