»Nun, geh nur, geh nur!« Oblomow und Sachar schrien zu gleicher Zeit einander an. Sachar ging, und Oblomow begann den Brief zu lesen, dessen graues Papier mit Kwaß beschrieben zu sein schien und der mit braunem Siegellack versiegelt war.
»Geehrter Herr«, begann Oblomow, »Euer Wohlgeboren, unser Vater und Ernährer, Ilja Iljitsch ...!«
Er übersprang ein paar Begrüßungsworte und Wünsche für sein Wohlergehen und las aus der Mitte weiter:
»Ich berichte Deinem herrschaftlichen Wohlgeboren, daß auf Deinem Gut, Du unser Ernährer, alles in Ordnung ist. Wir haben schon seit fünf Wochen keinen Regen. Der Herrgott zürnt uns wohl, da er uns keinen Regen sendet. Selbst die Alten können sich einer solchen Dürre nicht erinnern. Die Sommersaaten sind wie vom Feuer verbrannt. Die Wintersaaten sind an manchen Stellen von Würmern zernagt, und an manchen Stellen haben frühzeitige Fröste sie zugrunde gerichtet; wir haben sie zu Sommersaaten umgepflügt, wissen aber nicht, ob es geraten wird! Vielleicht wird der barmherzige Gott Deinem herrschaftlichen Wohlgeboren helfen, um uns sorgen wir uns nicht, wir sollen nur krepieren. Und zu Johanni sind noch drei Bauern fort: Laptjew, Balotschow und Wassjka, der Sohn vom Schmied ist allein fort. Ich hab' die Weiber nach den Männern geschickt. Die Weiber sind nicht zurückgekehrt und leben, wie man sagt, in Tscholki, und mein Gevatter aus Werchljewo ist auch nach Tscholki gefahren, der Verwalter hat ihn hingeschickt; man soll einen ausländischen Pflug hingebracht haben, und der Verwalter hat den Gevatter nach Tscholki geschickt, damit er diesen Pflug anschaue. Ich habe dem Gevatter von den flüchtigen Bauern erzählt; ich habe mich dem Kreisrichter zu Füßen geworfen, er hat gesagt: ›Reiche ein Papier ein, dann werden wir die Bauern nach ihrem früheren Wohnort zurückschicken‹, sonst hat er nichts gesagt, und ich bin ihm zu Füßen gefallen und hab' ihn flehentlich gebeten; und er hat mich laut angeschrien: ›Geh, geh! Man hat dir gesagt, daß es gemacht wird – reiche ein Papier ein!‹ Ich habe aber kein Papier eingereicht. Man kann hier niemand zur Arbeit aufnehmen; alle sind an die Wolga gegangen, sie arbeiten dort auf den Barken. Das Volk ist jetzt hier so dumm geworden, unser Ernährer Väterchen Ilja Iljitsch! Unser Leinen kommt dies Jahr nicht auf den Markt: ich hab' die Bleichkammer und die Trockenkammer zugeschlossen und habe den Sitschug angestellt, bei Tag und bei Nacht aufzupassen; er ist ein nüchterner Bauer, ich bin aber bei Tag und Nacht hinter ihm her, damit er nichts von der Herrschaft einsteckt. Die anderen trinken viel und zahlen gar nichts. Die Abgaben sind im großen Rückstand: wir werden Dir, Du unser Väterchen und Wohltäter, in diesem Jahr um zwei Tausend weniger schicken als im vergangenen Jahr, wenn uns die Dürre nicht ganz zugrunde richtet, sonst schicken wir es Dir, was wir Deinem Wohlgeboren hiermit mitteilen.«
Dann folgten Versicherungen der Ergebenheit und die Unterschrift: »Dein Dorfschulze, Dein ergebener Sklave Prokofij Witjaguschkin hat eigenhändig unterschrieben.« Da der Betreffende des Schreibens nicht kundig war, hatte er ein Kreuz hingemalt. »Nach dem Diktat des obigen Dorfschulzen von seinem Schwager Djomka, dem Krummen, geschrieben.«
Oblomow sah sich den Schluß des Briefes an. »Es ist weder der Monat noch das Jahr angegeben«, sagte er, »der Brief liegt gewiß seit vorigem Jahr beim Dorfschulzen; es steht von Johanni und der Dürre drin! Es ist ihm erst jetzt eingefallen, ihn fortzuschicken«; er vertiefte sich in seine Gedanken.
»Nun?« fragte er dann, »was sagen Sie dazu? Er bietet mir ›um zwei Tausend weniger‹ an! Wieviel bleibt denn da? Wieviel habe ich voriges Jahr bekommen?« fragte er, Alexejew anblickend. »Habe ich's Ihnen damals nicht gesagt? ...«
Alexejew wandte seine Augen der Zimmerdecke zu und dachte nach.
»Ich muß Stolz fragen, wenn er kommt«, fuhr Oblomow fort, »ich glaube, sieben oder acht Tausend ... es ist schlimm, wenn das nicht geschrieben wird! Er teilt mir jetzt also nur sechs zu! Ich werde ja verhungern! Wie soll ich damit auskommen?«
»Warum regen Sie sich so auf, Ilja Iljitsch?« sagte Alexejew, »man darf niemals verzweifeln; wenn etwas gemahlen ist, wird Mehl daraus.«
»Hören Sie denn nicht, was er schreibt? Anstatt mir Geld zu schicken, mich irgendwie schadlos zu halten, bereitet er mir, wie um sich über mich lustig zu machen, lauter Unannehmlichkeiten! Und so ist es jedes Jahr! Ich bin jetzt ganz außer mir! ›Um zwei Tausend weniger‹!«
»Ja, das ist ein großer Schaden«, sagte Alexejew, »zwei Tausend, das ist kein Spaß mehr! Alexei Loginitsch soll in diesem Jahr auch nur zwölftausend statt siebzehn bekommen haben.«
»Also doch zwölf und nicht sechs«, unterbrach ihn Oblomow. »Der Dorfschulze hat mich ganz verstimmt! Und wenn es auch tatsächlich so ist, daß Mißernte und Dürre herrschen, warum muß er mich da im vorhinein kränken?«
»Ja ... wirklich«, begann Alexejew, »das sollte er nicht tun; aber wie kann man denn von einem Bauern Feinfühligkeit erwarten? Dieses Volk versteht gar nichts.«
»Was würden Sie an meiner Stelle tun?« fragte Oblomow und blickte Alexejew mit der schwachen Hoffnung an, dieser würde sich zu seiner Beruhigung etwas ausdenken.
»Man muß die Sache überlegen, Ilja Iljitsch, das kann man nicht auf einmal abtun«, sagte Alexejew.
»Soll ich vielleicht dem Gouverneur schreiben?« sagte Ilja Iljitsch nachdenklich.
»Wer ist denn dort Gouverneur?«
Ilja Iljitsch antwortete nicht und sann nach. Alexejew schwieg und vertiefte sich auch in seine Gedanken.
Oblomow zerknitterte den Brief, stützte seinen Kopf auf die Hände, stemmte seine Ellbogen gegen die Knie und saß einige Zeit so da, vom Ansturm beunruhigender Gedanken gepeinigt.
»Wenn wenigstens Stolz bald käme«, sagte er, »er schreibt, daß er bald hier sein wird, und treibt sich dabei Gott weiß wo herum! Er hätte mir alles geordnet.«
Er wurde wieder traurig. Lange Zeit schwiegen beide. Endlich kam Oblomow als erster zur Besinnung.
»Man muß folgendes tun!« sagte er entschlossen und wäre fast aufgestanden, »und das muß möglichst bald geschehen, man darf nicht zögern ... Erstens ...«
Da ertönte ein verzweifeltes Läuten im Vorzimmer, so daß Oblomow und Alexejew zusammenfuhren und Sachar augenblicklich von der Ofenbank herabsprang.
Drittes Kapitel
»Zu Hause?« fragte jemand im Vorzimmer laut und grob. »Wohin soll man um diese Zeit gehen?« antwortete Sachar noch gröber.
Es kam ein etwa vierzigjähriger Mann herein, der einer stämmigen Rasse anzugehören schien, groß, in den Schultern und im ganzen Körper breit war, ausgeprägte Gesichtszüge, einen großen Kopf, einen stämmigen kurzen Nacken, große Glotzaugen und dicke Lippen besaß. Ein flüchtiger Blick auf diesen Menschen erzeugte die Vorstellung von etwas Grobem und Unsauberem. Man sah, daß er sich nicht um die Eleganz seines Anzuges kümmerte. Man kam selten dazu, ihn ordentlich rasiert zu sehen. Doch das war ihm offenbar gleichgültig; seine Kleidung brachte ihn nicht in Verlegenheit und wurde von ihm mit einer zynischen Würde getragen. Das war Michej Andrejitsch Tarantjew, Oblomows Landsmann.
Tarantjew blickte alles düster an, mit halber Verachtung und offenkundiger Feindseligkeit seiner Umgebung gegenüber, er war bereit, über alle und alles auf der Welt zu schimpfen, als wäre er ungerecht gekränkt oder in irgendeiner seiner Eigenschaften verkannt worden, wie ein selbständiger, vom Schicksal verfolgter Charakter, der sich nur unfreiwillig und protestierend fügt. Seine Bewegungen waren selbstbewußt und schwungvoll; er sprach laut, dreist und fast immer zornig; wenn man ihm aus der Ferne zuhörte, schien es, drei leere Fuhren rasselten über eine Brücke. Er ließ sich durch niemands Anwesenheit einschüchtern, suchte nicht lange nach Ausdrücken und war überhaupt immer mit allen grob, ohne seine Freunde auszuschließen, als wollte er einen jeden fühlen lassen, daß er ihm durch sein Sprechen, selbst durch sein Teilnehmen am Mittagessen oder Abendbrot eine große Ehre erwies.
Tarantjew war schlagfertig und schlau; niemand konnte besser als er eine Frage des alltäglichen Lebens oder eine verwickelte juridische Angelegenheit klarlegen: er stellte sogleich eine Theorie