„Der kleine Mistkerl hat mich bestohlen!“
Die Umstehenden, die diese grobe Bestrafung offensichtlich für angemessen hielten, pflichteten ihm verständnisvoll bei. „Er hat ihm einen seiner Äpfel entwendet! Wo kommen wir da hin, wenn man das einfach so duldet?“, polterte eine pausbäckige Frau.
Laniki blickte auf den Jungen herab. Er sah sie aus ängstlich geweiteten Augen an und versuchte erfolglos, sich aus dem Griff des Mannes zu befreien.
„Ich hatte solchen Hunger! Meine Eltern sind tot und ich habe schon seit zwei Tagen nichts mehr gegessen“, winselte er zaghaft.
„Der lügt doch!“, kam es aus mehreren Mündern gleichzeitig.
Laniki nahm den Jungen am Arm und konnte durch diese Berührung sein Wesen erkennen. Er sprach die Wahrheit.
Wütend sah sie nun in die Menge. „Nein, das glaube ich nicht!“, sagte sie.
„Mir doch egal, was ein dahergelaufenes Frauenzimmer denkt!“, schrie der Bestohlene. „Der Kerl kassiert jetzt eine Tracht Prügel, die sich gewaschen hat.“
Unter den zustimmenden Ausrufen der Menge zerrte er den Jungen wieder zu sich und holte zum Schlag aus.
Laniki sprang auf ihn zu und hielt seine Hand fest. „Hast du denn gar kein Mitgefühl?“, fragte sie ihn und blickte in seine Seele.
Nein! Das hatte er eindeutig nicht. Keiner von all denen ringsum.
Doch dann geschah es. Unter ihrem Blick entspannte sich das vor Wut verzerrte Gesicht des Mannes und er ließ langsam seine Hand sinken. „Hier, nimm den Apfel und verschwinde!“, zischte er dem Jungen zu und ließ ihn los.
Der rappelte sich auf und rannte davon.
„Komm jetzt!“, mahnte Tana erzürnt und zog Laniki eilig mit sich fort, bevor sich die überraschte Menge von ihrem Schreck erholte.
Als sie weit genug entfernt waren, polterte die sonst so ausgeglichene Lehrmeisterin los. „Du musst vorsichtiger sein! Wenn du die Aufmerksamkeit der Leute auf dich ziehst, werden bald die Falschen davon erfahren und du machst alles zunichte!“
Laniki fühlte sich zu unrecht angegriffen. „Soll ich etwa dabei zusehen, wenn schwache Kinder misshandelt werden? Wozu soll diese Gabe dann gut sein?“
Tana holte tief Luft. Sie konnte verstehen, was in dem Mädchen vor sich ging, doch hier ging es um mehr. Sie versuchte sich wieder zu beruhigen und sprach nun ohne Zorn in ihrer Stimme weiter. „Hör mir zu! Du hast im Grunde das Richtige getan, doch sie werden gespürt haben, dass hier geheime Kräfte am Werk waren. Was, wenn dich jemand beobachtet und dich verfolgt, um deine Gaben für sich zu missbrauchen. Ich werde nicht immer bei dir sein, um dich zu schützen. Hab Geduld! Die Zeit wird kommen, in der die Menschen wieder Mitgefühl ihren Nächsten gegenüber entwickeln. Doch dazu brauchen sie dich!“
Laniki begann zu begreifen was Tana ihr sagen wollte. Kleinlaut gab sie ihr recht.
„Du musst einschätzen lernen, wann und in welcher Form du dich für andere einsetzen darfst“, fügte Tana verständnisvoll hinzu und strich ihr sanft übers Haar.
Eine Weile schwiegen sie.
„Ich glaube, ich muss noch einiges lernen, nicht wahr?“, fragte das Mädchen einlenkend.
„Dazu bin ich ja da, Kindchen.“ Tana zwinkerte ihr aufmunternd zu und dann machten sie sich, Arm in Arm, auf den Rückweg.
Auch in dieser Nacht wurde Laniki von ihrem Albtraum geplagt. Jedoch immer, wenn sie meinte etwas Genaueres erkennen zu können, waren die Bilder wieder verschwunden.
Rückkehr nach Hause
Die Zeit ihrer Ausbildung ging langsam dem Ende entgegen. Als Tana eröffnete, dass sie Laniki bald zurück zu ihrer Familie bringen würde, war deren Freude groß. Doch je näher der ersehnte Tag heranrückte, um so größer wurde auch die Furcht vor der Aufgabe, die sie erwartete.
Eines Abends, als sie mit ihren täglichen Übungen fertig waren, erzählte das Mädchen ihrer Lehrerin von ihren Sorgen. „Ich weiß nicht, wie ich das ohne dich schaffen kann. Ich weiß nicht mal, wann und wo ich mit der Suche nach Eras Amphore beginnen soll.“
Tana legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter und sagte: „Hab keine Angst! Angst ist ein schlechter Ratgeber. Du wirst nicht allein sein auf deinem Weg. Nicht nur Era wird dich unterstützen. Auch andere Götter haben sich unserem Kampf gegen das Böse angeschlossen und einige Menschenkinder mit ihren Gaben ausgestattet. Du wirst sie zu deinen Gefährten machen und sie werden dich mit Kräften unterstützen. Folge deinen Instinkten, dann wirst du auf den rechten Weg geführt werden.“
In einer sternenklaren Nacht kamen sie zum Dorf des Mädchens zurück. Alles schien friedlich und ruhig. Laniki hatte das Gefühl, ihr Herz würde so laut schlagen, dass es jeden seiner Bewohner aus dem Schlaf rufen musste. Doch nichts geschah.
Tana blieb plötzlich stehen. „Hier trennen sich unsere Wege. Lass uns Abschied nehmen“, sagte sie mit einem schwermütigen Lächeln.
„Jetzt schon?“, fragte Laniki verwundert. „Warum kommst du nicht mit ins Haus. Du kannst die Nacht bei uns verbringen und morgen zurückkehren“, versuchte sie ihre geliebte Lehrerin aufzuhalten. Tana war inzwischen wie eine zweite Mutter für sie und sie wollte sie am liebsten nicht gehen lassen.
Doch diese schüttelte nur langsam den Kopf. „Nein. Was würde das bringen? Es würde uns den Abschied nur schwerer machen. Ich werde immer in deinem Herzen sein, also direkt bei dir.“ Dann griff sie zwischen ihre Rockfalten und holte ein Medaillon hervor. „Trage es immer bei dir! In der größten Not wird es sich öffnen und ich werde dir beistehen. Bis dahin achte auf die kleinen Signale, die es dir gibt. Du wirst schon sehen.“ Mit diesen Worten legte sie es Laniki um den Hals und küsste ihr zum Abschied die Stirn. Dann drehte sie sich um und war alsbald in der Dunkelheit verschwunden.
Mit einem Gefühlschaos aus Abschiedsschmerz von Tana und Vorfreude auf das Wiedersehen mit den Ihren, machte sich das Mädchen auf den Weg zur Hütte ihrer Eltern. Voller Aufregung klopfte Laniki an die Tür. Zunächst geschah nichts, doch dann hörte sie Geräusche.
„Wer ist da? Mitten in der Nacht!“, rief es verschlafen von drinnen.
„Ich bin es, Vater!“, antwortete sie mit zittriger Stimme. Sie hörte Schritte und das Schaben des Riegels. Dann wurde die Tür geöffnet und eine Laterne vor ihr Gesicht gehalten.
„Bei allen Göttern! Uma, sie ist es wirklich!“, ertönte der fassungslose Ausruf ihres Vaters. Er ließ die Laterne sinken und schloss Laniki fest in seine Arme. Über seine Schulter hinweg sah sie in die vor Freude weit aufgerissenen Augen ihrer Mutter. Ganz langsam löste sie sich von Bahan und umarmte Uma voller Inbrunst.
Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, saßen sie sich am Tisch gegenüber und die Eltern musterten aufmerksam ihre so lang entbehrte Tochter.
„Du bist erwachsen geworden. Und so wunderschön“, sagte Bahan voller Stolz.
Laniki war inzwischen einundzwanzig Jahre alt und zu voller Weiblichkeit erblüht. Sie errötete ein wenig und lenkte das Gespräch schnell in eine andere Richtung. „Wie ist es euch hier ergangen, seit ich wegging. Wo ist Luka? Schläft er?“
Die Eltern warfen sich einen verunsicherten Blick zu. „Uns erging es nicht schlecht. Era hat bis heute ihre schützende Hand über uns gehalten und das Treiben des Krieges ist auf wundersame Weise von uns ferngeblieben. Doch ...“
Laniki wurde unruhig. „Was ist? Ist Luka etwas zugestoßen?“ Panik stieg in ihr auf.
„Nein, es geht ihm gut. Er dient in Sauls Heer und hat sich dort schon einen großen Namen gemacht.“
Laniki sprang vor Entsetzen auf. Luka ein Handlanger des Krieges? Das durfte nicht