„Wen interessiert das? In ein paar Monaten gibt es wieder Nachschub. Und jetzt verzieh dich!“
Seine Peitsche erhob sich in die Luft und wollte auf den Mann am Boden niederfahren, als Laniki seine Hand ergriff und ihm fest in die Augen sah. Unter ihrem Blick veränderte sich das kalte Gesicht des Mannes zusehends. Die Umstehenden wurden Zeuge einer unglaublichen Vorstellung. Der Koloss ging auf die Knie, als würde ihn eine untragbare Last zu Boden ziehen. Er vergrub sein Antlitz in den Händen und begann bitterlich zu weinen. Ein anderer Gefangener half dem Alten auf und nahm rasch den Wasserschlauch an sich. Sie warfen Laniki einen dankbaren Blick zu und machten sich schnell daran, den Mitgefangenen zu folgen. Inzwischen kamen andere Soldaten zu ihnen, um nachzusehen, was die Gruppe aufgehalten hatte.
„He, Batu, was ist mit dir?“, fragten sie den immer noch am Boden hockenden, gebrochenen Mann. Als der keine Reaktion zeigte, zogen sie ihn hoch.
Laniki und Bahan nutzten die allgemeine Verwirrung, um sich aus dem Staub zu machen.
Als sie weit genug entfernt waren, hielt der völlig entsetzte Vater sein Fuhrwerk an und polterte los. „Bist du verrückt geworden? Wir hätten jetzt tot sein können! Was, wenn dieser Schinder nicht zufällig zusammengebrochen wäre?“
Laniki blieb ruhig. Sie konnte seinen Zorn verstehen. Sie wusste, dass ihr Vater im Grunde richtig fand, was sie getan hatte. Ihm fehlte nur selbst der Mut dazu, genau wie etlichen anderen auch. Den meisten war es wirklich egal, was mit den Tosmanen geschah, aber es gab Menschen, die sich beim Anblick solcher Szenen zumindest unwohl fühlten, doch dies aus gutem Grund verbargen. Mitgefühl für den Feind, soweit es überhaupt irgendwo auftauchte, wurde hart bestraft.
„Er ist nicht zufällig zusammengebrochen“, sagte sie nur knapp.
„Wie meinst du das?“, fragte Bahan überrascht.
„Ich habe einiges bei Tana gelernt, wie du weißt. Ich habe ihn gezwungen, seine eigenen Untaten zu sehen. Sagen wir einfach, ich habe ihm mein Mitgefühl geliehen. Er hat sich dabei selbst durch meine Augen gesehen. Sein Herz hat noch nie einen solchen Schmerz und solche Scham durchlebt wie in diesen Sekunden. Ihm muss es endlos erschienen sein. Dieses Gefühl hat er nicht ausgehalten. Nur darum ist er zusammengebrochen.“ Aus ihren Worten klang keine Genugtuung. Sie empfand eher Mitleid mit diesem Mann, der sein ganzes Leben ohne Gefühl gelebt hatte.
Bahan brauchte noch eine Weile, um sich zu sammeln. Er betrachtete Laniki, als sähe er sie heute zum ersten Mal. Sie hatte sich wirklich verändert! Nur zu gern hätte er etwas von ihrem Mut gehabt. „Und wird er sich in Zukunft bessern?“, fragte er zögernd.
„Ich glaube, die Sache wird ihm in Erinnerung bleiben, aber deshalb besitzt er noch lange kein gutes Herz. Er ist allein nicht dazu in der Lage, fremdes Leid zu empfinden.“
„Wie auch immer, wir können jetzt nicht mehr zur Festung fahren. Man würde dich wiedererkennen und sofort in den Kerker werfen lassen.“
Laniki dachte einen Augenblick nach. „Verlasse dich auf deine Instinkte!“, hatte Tana ihr geraten. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie den Dingen ihren Lauf lassen sollte. Sie war sich plötzlich sicher, dass sie sogar zur Festung musste! Doch sie wollte den Vater nicht unnötig in Schwierigkeiten bringen. Bald kam ihr eine Idee.
„Nein! Wir werden wie geplant hinfahren. Aber wir werden nicht gemeinsam hineingehen. Wenn dich jemand mit mir in Verbindung bringt, dann behaupte, dass du mich nur auf deinem Wagen mitgenommen hast, aber nicht kennst. Dann erledige deine Geschäfte und fahre nach Hause.“
„Das kommt überhaupt nicht infrage!“, rief Bahan erzürnt aus. „Ich werde meine Tochter nicht dieser Gefahr aussetzen, und wie ein Feigling verschwinden!“
Laniki beugte sich zu ihm hin und sah ihm verschwörerisch in die Augen.
„Doch, du musst! Mein Weg hat begonnen und ich werde ihn jetzt gehen. Nur auf diese Weise kannst du mir helfen. Ich muss mir sicher sein, dass Mutter und du in Sicherheit seid.“
Langsam begriff Bahan, dass er keinerlei Chance hatte und begann sich damit abzufinden. „Also gut!“, sagte er nur knapp und das Fuhrwerk setzte sich wieder in Bewegung.
Sie warteten bis kurz vor Sonnenuntergang und verabschiedeten sich schweren Herzens, für unbekannte Zeit, voneinander. Als Laniki sah, dass der Wagen das Tor passiert hatte, wartete sie noch eine Weile und tat es ihm gleich.
Sie ließ sich durch die Gassen treiben und beobachtete, wie ein paar Männer - überwiegend Soldaten - bei einem Becher Wein Karten spielten und dabei nicht selten in Streit und wilde Raufereien ausbrachen. Laniki wusste nicht, was sie tun sollte, darum setzte sie sich an einen Brunnen und wartete einfach, bis das Schicksal sie weiterführte.
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