Jetzt erst bemerkte Bahan, wie sehr sie außer Puste geraten war. „Oh nein! Du bist die ganze Strecke hierher gerannt? Mit dem Kleinen auf dem Arm?“ Eilig nahm er ihr den Jungen ab.
„Was blieb mir anderes übrig? Ich kehre jetzt auch sofort zurück. Denkst du, dass du mit dem Jungen allein klarkommst bis morgen früh?“, fragte Uma besorgt und zog noch das Fläschchen mit dem Kräutersud und eines mit etwas Milch aus ihrem Umhang hervor.
„Natürlich!“, antwortete Bahan und wirkte wesentlich sicherer, als er sich fühlte.
Sie war schon ein paar Schritte gegangen, als sie plötzlich noch einmal stehen blieb und sich zu ihm umdrehte. „Schmied Bahan - ich liebe dich von ganzem Herzen!“, sagte sie gerade laut genug, dass er es hören konnte.
Mit einem sinnenden Lächeln schaute er noch lange auf die Stelle, an der sie aus seinem Blick verschwunden war. Dann setzte er sich unter einen Baum und lehnte sich gegen dessen dicken Stamm. Das schlafende Kind lag in seinem Arm. Mit der Überzeugung, das Richtige zu tun, schloss er die Augen und dämmerte in einen leichten Schlaf.
Uma gelangte zur Hütte zurück, ohne jemandem zu begegnen. Erschöpft ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und rieb ihren schmerzenden Knöchel. Kurz bevor sie aus dem Wald herausgekommen war, war sie ausgerutscht und hatte sich den Fuß vertreten.
„Tut dir etwas weh, Mama?“, fragte Laniki aus ihrem Bettchen.
„Es ist alles gut, Kleines. Ich bin nur umgeknickt. Schlaf ruhig weiter!“
Doch Laniki stand schon neben ihr. „Lass mich mal sehen.“ Sie strich mit den Fingerspitzen über das bereits anschwellende Gelenk. „Arme Mama“, flüsterte das Mädchen mit jener anrührenden Besorgnis, die Kindern so eigen ist. Die Berührung löste ein angenehmes Kribbeln in Uma aus und plötzlich ließ der Schmerz nach. Laniki schien das Besondere daran allerdings nicht bewusst zu sein. Sie gab der Mutter noch einen feuchten Kuss und ging zurück ins Bett.
Ein sorgenvolles Lächeln lag auf Umas Gesicht, wie jedes Mal, wenn ihr die Zeichen der verschwundenen Gottheit durch ihre Tochter offenbart wurden.
Am folgenden Nachmittag kehrte Bahan mit Luka zurück. Neugierig traten die Nachbarn an die Ankömmlinge heran. Wie erwartet hatte die Geschichte von der schwerkranken Base schon die Runde gemacht. Schließlich drückte man dem Schmied allgemeines Beileid aus und tätschelte dem verängstigten Kind den Kopf.
„Mein Gott, die Hälfte von ihnen hätte den Jungen wahrscheinlich zum Teufel gewünscht, wenn sie auch nur geahnt hätten, wo er herkommt“, meinte Bahan später verbittert, während er sich die Stiefel auszog.
Uma trat hinter ihn und massierte seinen verspannten Nacken. „Das wird, der Göttin sei Dank, hoffentlich bald ein Ende haben“, antwortete sie mit einem Blick auf Laniki.
Bahan wusste sofort, was sie meinte und tätschelte ihr nachdenklich die Hand.
Ihre Tochter war gerade dabei, den weinenden Jungen zu beruhigen und brauchte dazu nicht lange. Schon kurz nachdem er ihr in die Augen geblickt hatte, begann er selig zu lächeln und brabbelte leise vor sich hin.
„Ich bin jetzt deine Schwester und ich werde dich immer beschützen“, teilte sie ihm nun feierlich mit. Sie konnte in ihrer kindlichen Unschuld nicht wissen, dass sie ihm wahrscheinlich nicht zum letzten Mal das Leben gerettet hatte.
Von nun an verbrachten die neuen Geschwister viel Zeit miteinander und bald lief der Kleine Laniki überallhin nach. Ihr war das nur recht, denn mit Luka an ihrer Seite fühlte sie sich erst wie ein vollständiger Mensch. Wann immer ihm ein Unrecht geschah, stellte sie sich schützend vor ihn und bald wussten alle: Wer sich mit Luka anlegte, bekam es auch mit Laniki zu tun.
Mit der Zeit wurde allerdings die Situation im Land immer schwieriger. Mittlerweile mussten sich alle Jungen, die das fünfzehnte Lebensjahr vollendet hatten, in der Heeresschule vorstellen und einem Auswahlverfahren unterziehen. Diejenigen, bei denen man besonderes kämpferisches Potenzial sah, erhielten eine zweijährige Ausbildung und sie wurden zu künftigen Feldherren herangezüchtet. Die anderen bekamen in wenigen Monaten alles beigebracht, was ein einfacher Kämpfer können musste und durften zunächst nach Hause zurückkehren, um dort weiter ihren zivilen Pflichten nachzugehen. Inzwischen herrschte überall Mangel an männlichen Arbeitskräften. Darum warteten sie zu Hause auf den Befehl, für eine der nächsten Schlachten einberufen zu werden. Immer öfter hörte man davon, dass der Feind weit ins Land vorgestoßen sei, doch nach mehreren Wochen erbitterten Kampfes konnte man ihn wieder zurückdrängen. So ging es schon von Anfang an, als läge auch hierin ein zusätzlicher Fluch über den verfeindeten Reichen. Manchmal wünschten sich die Menschen insgeheim beinahe, dass der Feind doch endlich siegen sollte, nur damit das Kämpfen endlich ein Ende hätte. Doch dann wurden ihnen die Gräueltaten des Gegners vor Augen gehalten und mit dem dadurch entstehenden Hass kochte wieder neuer Kampfeswille auf - ganz im Sinne ihres Königs.
Mit jedem Monat wurde der männliche Teil der Dorfbewohner kleiner. Bahan konnte sich vor einem Eintritt ins königliche Heer nur schützen, indem er eine List einsetzte.
Eines Tages kamen die Häscher des Königs ins Dorf, um jeden kampffähigen Mann für die nächste Schlacht anzufordern. Auch Bahan wurde angesprochen. Geistesgegenwärtig wie immer, hatte der kluge Mann schnell einen Plan gefasst.
„Tut mir leid“, sagte er entschuldigend, „vom Kämpfen verstehe ich leider nichts. Ich bin nur ein einfacher Schmied. Aber wenn ich euch mit meiner Kunst dienen kann, dann will ich das gern tun.“
Wortlos überreichte er ihnen ein Schwert, welches er einst für den Fall geschmiedet hatte, dass er seine Familie verteidigen müsse. Es war von außergewöhnlich hoher Qualität, was den Männern von König Saul sofort ins Auge fiel. Sie betrachteten es ausgiebig und unterzogen es sogleich einem Test. Es bestand mit Bravour. Sie nahmen es an sich und schon zwei Wochen später erhielt Bahan den ersten Auftrag. Bald hatte er sich einen guten Namen als Waffenschmied gemacht und stöhnte unter einem Berg von Arbeit.
Laniki wuchs zu einem schönen jungen Mädchen heran und machte ihren Eltern nur Freude. Fast vergaßen sie, dass auf ihr geliebtes Kind eine große Aufgabe wartete, und hofften im Stillen darauf, dass die Friedensgöttin es ihnen gleichtun würde.
Doch der Tag kam, als Era Uma erneut im Traum erschien. Erneut fand sie sich in dem hellen Licht der großen Halle wieder. Die Göttin blickte auf sie herab und begann zu sprechen: „Die Zeit ist gekommen, Laniki ihrer Bestimmung zuzuführen. Zur Sommersonnenwende im nächsten Monat bringt ihr sie um Mitternacht an den Altar, den ihr zu meinen Ehren errichtet habt. Dort wird euch meine treue Dienerin Tana erwarten und das Mädchen in ihre Obhut nehmen. Sie wird Laniki alles lehren, was sie für ihre Aufgabe wissen muss.“
Uma war entsetzt. Sie hatte immer gewusst, dass der Tag kommen würde, aber jetzt, wo es so weit war, brachte sie die Angst vor der Trennung beinahe um den Verstand.
„Wann werden wir sie wiedersehen?“, fragte sie matt.
„In ein paar Jahren, wenn sie so weit ist, wird sie zu euch zurückkehren und auf den Zeitpunkt warten, an dem sie den Ruf hört.“
„Aber ...“, wollte Uma noch einwenden, doch Era fiel ihr ins Wort.
„Du hast es von Anfang an gewusst. Füge dich und habe keine Angst! Es wird ihr gut gehen.“
Bevor sie die Augen aufschlug, hörte Uma noch Eras ermahnende Stimme: „Seid zum vereinbarten Zeitpunkt vor Ort!“
Mit Tränen in den Augen und zitternden Händen, weckte sie ihren Mann.
„Es ist so weit, wir werden Laniki verlieren!“, keuchte sie ihm aufgeregt entgegen.
Er nahm seine schluchzende Frau in den Arm. „Beruhige dich! Was ist denn geschehen?“, fragte Bahan. Uma erzählte ihm alles und dann saßen sie eine Weile schweigend nebeneinander auf ihrer Bettstatt.
„Liebste, wir haben es immer gewusst. Sie ist nicht nur ein Geschenk für uns, sondern auch die Hoffnung für so viele Menschen. Wir