„Das ist für dich. Ruhe dich eine Weile aus. Es war ein anstrengender Weg bis hierher.“
Laniki blickte sich um. Es gab neben der Feuerstelle noch einen Tisch mit zwei Stühlen und ein wackliges Regal mit etwas Kochgeschirr, das an der Wand stand. Doch nirgends konnte sie eine zweite Schlafstelle ausfindig machen.
„Und du?“, fragte sie schüchtern.
Tana lächelte sie gutmütig an. „Ich schlafe nie“, sagte sie knapp.
Erstaunt musterte das Mädchen die Frau. Sie sah aus wie Ende fünfzig. Doch etwas stimmte nicht an ihrer Erscheinung. Sie hatte dunkles, mit grauen Strähnen durchwirktes Haar, das sie zu einem Knoten aufgesteckt trug. Das ovale Gesicht kündete von einstiger Schönheit. Sie war mittelgroß und recht zierlich, doch sie strotzte nur so vor Energie und ihre Augen wirkten wie die einer viel jüngeren Frau.
„Wer bist du wirklich?“, fragte Laniki mit prüfendem Blick.
Tana lächelte wieder. „Nun, das wirst du früh genug und völlig allein herausfinden“, gab sie zur Antwort. Wohl oder übel musste Laniki sich damit abfinden. Nachdem sie etwas gegessen hatte, kam sie Tanas Aufforderung nach und legte sich nieder. Schnell fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
Im Traum sah sie zwei Männer vor sich. Sie konnte sie nicht erkennen, denn ihre Umrisse erschienen nur schemenhaft. Sie kämpften miteinander. Dann hörte Laniki das Geräusch von brechendem Glas und wachte schweißgebadet auf.
Neben ihr stand Tana und schaute ihr fragend ins Gesicht. „Hast du gut geschlafen?“
Laniki setzte sich auf und strich sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. „Ich glaube nicht ... Ich weiß nicht ... Ich hatte einen Traum. Es waren zwei Männer im Kampf miteinander. Ich hatte wahnsinnige Angst. Aber ich weiß nicht warum.“
Tana sah sie aufmerksam an. „Nun, Träume können vieles sein. Aufarbeitung von bereits Erlebtem, Vorboten auf das, was noch kommt oder Warnungen aus unserem Inneren. Was glaubst du, war dein Traum?“
Laniki schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ich weiß es nicht.“
Tana lächelte wieder. „Siehst du, das wird ein Teil von dem sein, was ich dir beibringen werde. Erkenne die Zeichen, die dir gegeben werden!“
Das Mädchen erhob sich und machte sich etwas frisch. Dann nahm sie ein einfaches Frühstück zu sich und erwartete gespannt, was der Tag für sie bringen mochte.
Tanas erste Lektionen begannen draußen in der Natur.
„Um die Welt besser zu verstehen, musst du lernen, ihre Zusammenhänge zu erfassen und zu begreifen. Du musst die Zeichen der Natur zu deuten wissen und ihre Schätze ehren. Wenn du alles Leben um dich herum respektierst und achtest, selbst das kleinste, unscheinbare, wirst du daraus Kraft erhalten.“
Sie gingen hinaus. Tana führte sie tief in den Wald hinein und blieb an einem kleinen Bachlauf stehen. Sie beugte sich nieder und ließ das Wasser durch ihre Finger sprudeln.
„Sieh dir das Wasser an. Es entspringt aus einer kleinen Quelle und wird irgendwann zu einem großen Strom. Alles, was du tust und erlebst, kann als kleine Sache beginnen, die irgendwann zu einem gewaltigen Fluss wird, der allen Leben spendet - oder auch vernichtend sein kann. Unterschätze nie die kleinen Dinge, die du tust oder unterlässt. Sie könnten der Anstoß zu etwas sehr Großem und Wichtigem werden und das Leben von vielen Menschen beeinflussen. Ein unbedachtes Wort zum Beispiel oder eine scheinbar kleine, aber folgenreiche Verfehlung.“
Sie gingen weiter und folgten dem Lauf des Wassers. Dabei sammelten sie noch einige Heilkräuter, deren Bedeutung und Wirkungsweise Tana ausführlich erklärte.
In den folgenden Monaten erfuhr Laniki alles, was man über die Pflanzen- und Tierwelt wissen musste, um eben diese Achtung zu erlangen, von der Tana gesprochen hatte.
Eines Tages forderte die Lehrerin mit gewichtiger Miene, Laniki möge ihr folgen. Sie blieb vor dem Regal an der Wand stehen und sagte: „Jetzt werde ich dir eines der großen Geheimnisse zeigen, die ich behüte.“
Zu Lanikis Überraschung offenbarte sich hinter dem wackligen Regal eine geheime Tür. Durch diese betraten sie eine Art Höhle, in der sich eine Kräuterküche sowie einige Truhen befanden. Tana ging zu einer davon, die mit fremdartigen Inschriften und goldenen Beschlägen versehen war. Andächtig strich sie über deren Oberfläche.
„Diese Truhe enthält Schriften von großer Wichtigkeit! Vieles, was darin geschrieben steht, ist der Menschheit verloren gegangen oder sie wollten es einfach vergessen. Ich werde dir ihre Inhalte offenbaren und sie verstehen lehren.“
Rolle für Rolle nahmen sie sich vor. Laniki lernte viel über die Geschichte der Götter und der Menschen. Sie versuchte, sich alles zu merken und war eine aufmerksame Schülerin.
Die Legende von Assan
Etwa ein Jahr nach ihrer Ankunft fragte sich Laniki immer wieder, wie ihr das bisher Gelernte bei ihrer Aufgabe helfen sollte und worin diese überhaupt bestand. Sie beschloss, Tana danach zu fragen.
„Ich habe erwartet, dass du mich bald darauf ansprechen würdest. Du selbst bestimmst das Tempo deiner Ausbildung. Nun gut. Beschäftigen wir uns mit der Legende von Assan!“
Sie kramte eine Weile in den alten Schriften herum und kam bald mit der gesuchten Rolle zurück.
„Was weißt du darüber?“, fragte Tana, während sie sie öffnete.
Laniki dachte nach und erinnerte sich an die Geschichte, die ihre Mutter ihr einst unter der Auflage erzählt hatte, kein Wort darüber mit Fremden zu wechseln, da das Wissen darum nicht erwünscht war.
„Ich weiß, dass die Menschen von Assan einst glücklich und in Frieden miteinander lebten. Doch eines Tages zogen sie den Zorn der Friedensgöttin Era auf sich und sie wandte sich von ihnen ab. Laut einer Prophezeiung soll ein Kind geboren werden, das die Menschen zu ihr zurückführen soll und ihnen so den Frieden schenkt.“ Fast schüchtern setzte sie hinzu: „Ich!“
Tana lächelte sie zufrieden an. „So weit so gut! Doch du sollst die gesamte Geschichte erfahren. Die Legende besagt, dass Assan ein Ort des Glückes und der Freude war. Die Menschen lebten in Frieden und Eintracht miteinander. Sie huldigten verschiedenen Gottheiten. Eine von ihnen war Era, die Göttin des Friedens. Die Gottheiten fanden Gefallen an Assan und seinen klugen, friedlichen Bewohnern und machten ihnen ein Geschenk. In jedem der Tempel hinterlegten sie, zum Zeichen ihrer Verbundenheit, eine kristallene Amphore mit dem Elixier ihrer Gaben. Eras Gabe zum Beispiel bestand darin, die Gefühle der anderen bewusst wahrnehmen zu können und so sein Gegenüber besser zu verstehen. Menschen mit dieser Gabe waren unter anderem in der Lage Streit zu schlichten und so dem Wohle aller zu dienen. Jedes erstgeborene Kind wurde mit einem dieser Elixiere benetzt und so mit einer besonderen Gabe ausgestattet. Die Entscheidung, welche Gottheit das Neugeborene beschenkte, oblag den Eltern. Solange alles im Einklang stand, fehlte es ihnen an nichts. Doch bald verschob sich das Gleichgewicht. Eras Elixier wurde immer seltener gewählt. Andere Tugenden, wie Kampfesmut und Stärke, schienen den Menschen von größerem Nutzen zu sein.
Der Großteil von ihnen vergaß völlig, was das Wertvollste war, das sie besaßen, nämlich die Liebe und die Verbundenheit zu ihren Mitmenschen. Eines Tages wurde Eras Amphore von einer bösen Macht entwendet und an einen unbekannten Ort gebracht. Doch keiner der Einwohner Assans scherte sich darum. Era war erzürnt. Sie verwüstete den Tempel, der einst zu ihren Ehren errichtet worden war, und sprach einen Fluch über das Land aus. Sie raubte den Bewohnern die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden. Zurück blieb nur die Prophezeiung ihrer Hohepriesterin. Sie erschien am Fuße des zerstörten Tempels und sprach ein letztes Mal zu den Menschen: „Ich sage Euch im Namen meiner Herrin Era Folgendes: Ihr werdet großes Leid erfahren! Ohne Mitgefühl und Nächstenliebe