Das plötzliche Auftauchen des Pärchens zu dieser späten Stunde schien die ursprüngliche Planung durcheinandergebracht zu haben.
Angespannt beobachtete der Mann, in welcher Wohnung die beiden verschwanden. Piets Wohnung war längst ausgemacht, sie befand sich in der ersten Etage rechts. Wie zur Bestätigung ging auch schon in dieser Wohnung das Licht an.
Nur das Pärchen ließ sich viel Zeit damit, nach oben zu gelangen. Dann, endlich, kamen sie ins Blickfeld.
Durch die hellerleuchteten Treppenhausfenster ließ sich der Weg der Personen verfolgen. Immer wenn sie den Scheitelpunkt der Zwischentreppe erreichten, waren sie für einen kurzen Augenblick zu sehen. Als sie Piets Wohnung passiert hatten, blieben sie auf halber Treppe stehen. Eng umschlungen küssten sie sich, lange und leidenschaftlich. Das also war der Grund dafür, warum es solange dauerte.
Das Licht erlosch und es blieb dunkel im Hausflur. Lange genug, um den nächtlichen Beobachter unruhig werden zu lassen, der angestrengt sämtliche Fenster des Treppenhauses überflog. Als es endlich wieder ansprang, waren die Personen nicht mehr zu sehen. Dafür ging gleich darauf in der Wohnung in der zweiten Etage links die Beleuchtung an.
Das Treppenhaus wurde wieder dunkel. Nicht viel später verdunkelte sich auch die Wohnung des Pärchens. Aus einem der Straße abgewandten Raum drang noch etwas Licht zu den vorderen Fenstern, von unten kaum auszumachen.
Sie hatten ohnehin nicht den Eindruck gemacht, dass sie sich gleich zur Ruhe begeben wollten. Auf das, was sich bald im Haus abspielen sollte, würden sie nicht achten.
Der Rest des Hauses war längst in den Schlaf gefallen, nur in Piets Wohnung brannte weiter unverändert das Licht, ohne dass sich eine Bewegung hinter den Scheiben wahrnehmen ließ.
Die Straße war vollkommen ruhig, das ganze Viertel schien wie von einer dicken Watteschicht eingehüllt, die alle Geräusche dämpfte. Nur gelegentlich ließ sich aus der Entfernung dumpfes Motorengeräusch eines Fahrzeuges vernehmen, das aber rasch wieder verebbte.
Der schwarz gekleidete, drahtig wirkende Mann wartete geduldig weiter in seinem klammen Versteck.
Er besaß ein kantiges Gesicht, um die stahlgrauen Augen und dem schmalen Mund zogen sich erste, feine Spuren des beginnenden Alterungsprozesses. Mit wachen Augen beobachtete er die Umgebung, sicherte sich immer wieder nach allen Seiten ab.
Das Licht in Piets Wohnung erlosch einfach nicht. Eine weitere Stunde ließ er verstreichen, dann erst kam Leben in die unbeweglich im Gebüsch kauernde Person. Der Mann schnappte sich seinen Rucksack, in dem es leise metallisch klirrte, schnallte ihn sich auf den Rücken und beugte sich etwas nach vorn. Wieder schaute er sich nach allen Seiten um. Dann bewegte er sich schnell und lautlos über die Straße, um auf der gegenüberliegenden Seite gleich wieder im Schatten des anderen Hauses zu verschwinden. Er wartete ab, ob sein Positionswechsel eine Reaktion ausgelöst hatte. Irgendein Bewohner vielleicht, der nicht schlafen konnte und im Dunkel der Nacht eine Zigarette am geöffneten Fenster rauchte. Aber es war nichts zu sehen und nichts zu hören, alles blieb ruhig. Mit beiden Händen prüfte er die Stabilität der Regenrinne und zog sich daran spielerisch zum Balkon der Parterrewohnung hinauf. Es dauerte nur wenige Augenblicke und er stand, ohne verräterische Geräusche verursacht zu haben, auf Piets Balkon.
Er atmete etwas flacher und schneller als vorher, mehr war ihm von der Anstrengung nicht anzumerken.
Um nicht von einem zufälligen Nachtschwärmer gesehen zu werden, vermied er es, vor das erhellte Fenster zu treten. Vor der Wand war es durch den Kontrast der Wohnungsbeleuchtung besonders dunkel. Wie ein Raubtier, das eine Witterung aufnehmen will, hob er die Nase. Sein Gesicht hatte einen grausamen, entschlossenen Zug bekommen. Er schaute sich um und achtete auf jedes Geräusch. Die Straße war so leer und ruhig wie zuvor, die Fenster der gegenüberliegenden Häuser waren dunkel geblieben.
Aus der Wohnung drang deutlich ein lautes, gleichmäßiges Schnarchen.
Die abgekippte Balkontür ließ den Besucher zufrieden grinsen. Er kniete sich auf den Boden, der Rucksack glitt vorsichtig vom Rücken. Aus einer der beiden kleinen, vorn aufgesetzten Taschen zog er ein Stück Plastikrohr, nur wenige Zentimeter lang. An beiden Enden war eine Schnur befestigt. Er langte durch den Türspalt und steckte das Röhrchen von außen auf den nach oben zeigenden Verriegelungsgriff der Balkontür. Mit einer Schnur zog er das Röhrchen fest nach unten, damit es nicht vom Griff rutschen konnte. Die andere Schnur drapierte er so über die nach innen lehnende Tür, dass er sie am anderen Ende wieder greifen konnte. Er zog sie straff. Es war noch ein alter Beschlag ohne Sicherungsvorrichtung. Der Griff wurde durch die Spannung der Schnur bewegt und drehte sich zur Seite.
Die Tür war entriegelt.
Vorsichtig ließ er die Tür nach innen schwingen. Auf den Knien kroch er hinterher und war verschwunden. Innerhalb weniger Minuten war er in die Wohnung gelangt und hatte dabei weder Geräusche verursacht noch verräterische Spuren hinterlassen.
Gleich darauf wurden die Vorhänge von einer dunklen Gestalt zugezogen.
Alles, was nun passierte, blieb vor neugierigen Blicken verborgen.
Piet Lijsen lag mit dem Rücken auf dem Bett, noch vollständig angezogen. Er hatte sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, die Schuhe auszuziehen. Der Mund war weit geöffnet, aus ihm drangen gleichmäßig laute Atemgeräusche, der Brustkorb hob und senkte sich. Im Raum waberte eine unangenehme, feuchtwarme Mischung aus Alkoholdunst, Körpergeruch und Verdauungsgasen.
Sein Besucher musterte ihn emotionslos und überprüfte schnell die anderen Räume. Piet war wie erwartet allein, bis auf seinen ungebetenen Gast.
Die Einrichtung war typisch für einen Junggesellen, im Wohnraum eine Ledercouch, ein billiger Tisch, ein Regal mit einem großen Fernseher darauf, ein alter Schrank. In der Ecke eine Stereoanlage mit riesigen Lautsprecherboxen.
Nirgends war die gestalterische Handschrift einer Frau erkennbar.
Aus der Jackentasche zog der Besucher ein kleines Bündel, einen Glasflakon, von einem Tuch geschützt. Ohne den Mann auf dem Bett aus den Augen zu lassen, öffnete er das zerbrechliche Gefäß und verteilte die klare Flüssigkeit großzügig auf dem Tuch.
Das Schnarchen blieb währenddessen im gleichen Rhythmus.
Piet hatte jetzt keine Chance mehr.
Als sich das Tuch auf sein Gesicht legte, veränderte sich das Atemgeräusch kurzfristig zu einer Art unregelmäßigem Schnattern und der Kopf kam im Reflex nach oben. Gleich darauf aber sackte der Körper in sich zusammen und fiel in eine tiefe Bewusstlosigkeit.
Eine Bewusstlosigkeit, aus der das Erwachen furchtbar werden sollte.
Mit der gleichen stoischen Ruhe, die der Mann beim Beobachten seines Opfers an den Tag gelegt hatte, begann er seine Vorbereitungen für den weiteren Verlauf der Nacht.
Aus dem Rucksack zog er eine Unzahl von Utensilien heraus, legte sie auf einen kleinen Tisch, den er aus dem Wohnzimmer geholt hatte.
Dann begann er, Piet zu entkleiden.
Stunden später, die ersten Frühaufsteher bevölkerten die Straßen, um zur Arbeit zu gelangen, verließ ein dunkel gekleideter Mann mit schwarzer Mütze und hochgeschlagenem Kragen das Haus. Er ging mit ruhigen Schritten die Straße entlang und wirkte dabei wie ein Arbeiter auf dem Weg zur Frühschicht. Sein Aussehen war völlig unauffällig. Niemandem fiel etwas Ungewöhnliches an dieser Person auf.
Das Licht in Piets Appartement war erloschen, sein Leben auch.
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2.
Kapitel 2