„Der ist bestimmt schwul“, übertönte sie mit ihrer rauchigen Stimme spielend das Musikgerät. Die anderen Gäste, alles Männer, lachten schallend und schauten grinsend zu ihm herüber. In der Folgezeit ließen sie ihn zufrieden. Aber aus den neugierigen Blicken waren misstrauische geworden.
Piet gehörte nicht zu ihnen und das wollte er auch gar nicht. Er wirkte wie ein Reisender in einer Wartehalle, der jeden Tag aufs Neue mit stoischer Ruhe vergebens auf seinen Zug wartete.
Der Wirt, ein grauhaariger Mann mit breiten Koteletten und einem mächtigen Bauch unter seiner Lederschürze, gesellte sich eines Abends zu ihm, als Piet wieder einmal als Letzter übrig geblieben war.
Vielleicht war es der Alkohol, der seine Zunge gelockert hatte, vielleicht auch die selbst gewählte Einsamkeit, Piet begann, von seiner Militärzeit zu erzählen. Mitglied einer Sondereinheit sei er gewesen, Kommando Spezialkräfte des Niederländischen Heeres, mit allen Ehren ausgeschieden. Im Moment lebe er von seiner Abfindung, aber er warte auf eine große Sache, ein dickes Ding, wie er es geheimnisvoll umschrieb, mehr war ihm nicht zu entlocken.
Aber das war auch nicht nötig gewesen. Stirnrunzelnd hatte der Wirt die Augen verdreht und sich wieder um seine Geschäfte gekümmert.
Kneipen wie seine waren voll von Geschichten über Spezialeinheiten, vergebenen Lebenschancen und Fantastereien über das lang ersehnte große Glück, das dicke Ding. Das Gespräch hatte der Kneipier sicher schnell wieder vergessen.
An diesem letzten Abend seines Lebens war Piet wieder einmal der einzige verbliebene Gast.
Die anderen waren vom Wirt nach und nach hinauskomplimentiert worden. Die Stühle an den Tischen im Schankraum waren bereits nach oben gestellt, damit die Putzfrau morgen früh gleich durchwischen konnte. Der Wirt stellte sich hinter seinem Tresen auf gleiche Höhe mit Piet, in der Hoffnung, ihn bald loszuwerden.
Aber der schwenkte mit energischen Bewegungen sein Glas im trüben Thekenlicht. Halbhoch stand der Schaum im Glas, so hastig hatte er getrunken.
Der Wirt seufzte. Unter der Woche legte er großen Wert darauf, vor Mitternacht Feierabend zu machen.
Vor zehn Minuten bereits hatte er ihm die letzte Bestellmöglichkeit angekündigt.
Achselzuckend stellte er ihm noch ein Bier hin.
Piet hatte schon deutliche Schlagseite, sein Kopf ruhte an dem Eckpfosten der Theke, beim Anblick des frischen Bieres huschte ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht.
Als ultimative Aufforderung zum Gehen spendierte der Wirt seinem letzten Gast noch einen Genever. Einen neuen Stammkunden wollte er schließlich nicht vergraulen.
„So Junge, der geht auf mich. Aber dann ist wirklich Schluss. Ich mache jetzt die Theke sauber, und wenn ich damit fertig bin, ist Zapfenstreich.“
Piet trank das Bier mit einem Zug aus und stürzte den Genever hinterher. Er wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und zog sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche. Er fummelte darin herum, fand sich aber nicht mehr zurecht.
Also hielt er dem Wirt seine offene Börse hin und wartete ab, bis der sich daraus bedient hatte, um die Rechnung zu kassieren.
Dann klopfte er zweimal auf die Theke und machte sich auf den Weg.
Mit unsicherem Schritt trat er hinaus auf die Straße. Er blieb stehen und sog die Luft tief in seine Lunge ein. Es war kühl, die Luft roch nach feuchter Erde. Vom bevorstehenden Sommer war noch nichts zu spüren.
Im gegenüberliegenden Hauseingang zog sich eine Person tiefer in den Schatten zurück, als sie Piet erkannte. Geduldig wartete sie ab, bis er sich wieder in Bewegung setzte.
Die plötzliche Frischluft verstärkte die Wirkung des Alkohols, schwankend über eine ganze Gehwegbreite stolperte der Mann nach Hause. Die Person aus dem Hauseingang fluchte leise, dann folgte sie ihm wie ein unheilvoller Schatten.
Die wenigen Passanten, die noch unterwegs waren, nahmen keine Notiz von dem betrunkenen jungen Mann, der nach Hause wankte.
Laut hallten die unregelmäßigen, tapsigen Schritte auf dem nassen Pflaster. An der nächsten Hausecke blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen, angestrengt stierte er auf einen imaginären Punkt. Sein Verfolger drückte sich dicht in das Dunkel eines Mauervorsprungs und beobachtete Piet aufmerksam. Dann klärte sich das Problem. Breitbeinig tapste der Betrunkene auf die Hauswand zu und blieb dicht vor ihr stehen. Er fummelte vorn an seiner Hose. Aber es gelang ihm nicht, dabei still stehen zu bleiben.
„Holla“.
Er beugte sich nach vorn und stützte sich jetzt mit einer Hand an der Wand ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mit der anderen Hand fingerte er an seinem Hosenschlitz. Gleich darauf ließ sich ein deutliches Plätschern vernehmen. Der Alkohol hatte ihn so enthemmt, dass er auf offener Straße seine Notdurft verrichtete.
Ein Pärchen ging eingehakt vorbei, die Frau sagte etwas zu Piet. Aber als der sich in die Richtung umdrehte, aus der er das Geräusch wahrgenommen hatte, waren die Leute bereits an ihm vorbeigegangen und er starrte ins Leere.
Piet pinkelte mit vollem Druck gegen die Hauswand und ein mit Schaumblasen besetztes Rinnsal lief hinunter, spielte an seinen Schuhen entlang und verlor sich in der Gosse.
Dabei war ein zufriedenes Grunzen zu hören.
Endlich setzte er sich wieder in Bewegung, bis ins Bett war es nun nicht mehr weit.
Der schwarz gekleidete Mann folgte ihm in kurzem Abstand. Wäre Piet nüchtern gewesen, hätte ihm der unheimliche Verfolger auffallen müssen, so dicht war der Mann hinter ihm, aber in seinem Zustand bemerkte er ihn nicht. Nach ein paar Straßenecken lagen die letzten belebten Straßen hinter ihm. Die Gassen hier waren wie ausgestorben. Kein Mensch war weit und breit unterwegs, nur der betrunkene Exsoldat, dem ein schwarzer Schatten wie ein Pilotfisch folgte.
Sie näherten sich schließlich dem Haus, in dem sich Piets Wohnung befand. Der Verfolger beschleunigte seinen Schritt und verkürzte so den Abstand.
In diesem Moment fuhr auf der Straße ein Wagen vor und hielt vor dem Haus. Am Steuer eine Frau, ein Mann auf dem Beifahrersitz. Das Pärchen stieg aus, krachend flogen die Türen zu. Durch die Grabesstille rundherum wirkten die beiden wie Randalierer, die laut schwatzend und lachend auf die Eingangstür zugingen. Piet registrierte die Personen und beschleunigte seinen Schritt. Er gelangte an die Tür, kurz bevor sie wieder ins Schloss fiel. Schwungvoll drückte er sich durch den Spalt.
Der junge Mann trat mit gespieltem Schrecken einen Schritt zurück.
„Hallo, Meneer Lijsen. Sie haben es aber eilig!“
Piet Lijsen schaute trübe aus glasigen Augen und stolperte an den beiden vorbei die Treppe hinauf.
Dass ihm der Mann ein vielsagendes „Ganz schön feucht geworden, was?“ hinterher rief, drang nicht in sein Bewusstsein vor.
Das Pärchen amüsierte sich köstlich. Der Mann drückte die Tür zu und imitierte auf den ersten Stufen Piets schwankenden Gang. Beide lachten ausgelassen und dann folgten sie ihm nach oben.
Auf der anderen Straßenseite zog sich der Verfolger in den Schatten eines Gebüschs zurück. Hier hatte er vorhin, nachdem es dunkel geworden war, einen prall gefüllten Rucksack versteckt. Erst danach hatte er sich auf den Weg zur Kneipe aufgemacht, um mit der Ruhe und Ausdauer eines erfahrenen Jägers auf sein Opfer zu warten. Jetzt schlug er den Kragen seiner Jacke hoch und setzte sich eine Strickmütze auf den Kopf.
Es ging auf den Sommer zu, tagsüber schaute die Sonne schon regelmäßig heraus, aber die Nächte waren immer noch empfindlich kalt. Die Nähe zur See trug mit ihrer feuchten Luft dazu bei. Der Regen vom Nachmittag hatte die Luft zusätzlich abgekühlt.
Der Mann ging in die Hocke und vermied es wegen der Feuchtigkeit, mit den Ästen des Busches in Berührung zu kommen.
In den vergangenen Tagen war diese Person, ausstaffiert mit Sonnenbrille und Mütze, damit beschäftigt gewesen, Piets Gewohnheiten