Ein Bild vom alten Gringo. Tilman Weysser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tilman Weysser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783738032253
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“Dann rufe ich, wenn er fertig ist.”

       Eva nahm zwei Stufen auf einmal. Einen Moment später stand sie mit hochrotem Kopf in Magnus’ Zimmer. Besuch hatte Victoria nur gesagt. Es war gar nicht Maik. Das Gebirge aus zwei Knien und einem Rücken unter der Decke war unverkennbar. “Entschuldigung.” murmelte sie und ging rückwärts. Mit einem leisen “Ups” schloss sie die Tür.

      Victoria fragte nicht, warum Eva so eine gesunde Gesichtsfarbe hatte, servierte Roiboos-Tee und erkundigte sich, wie es Wolfram und Barbara ging. Eva fragte mehr beiläufig nach Janus. Mit Victoria musste er ja auch verwandt sein. Tatsächlich kannte Victoria ihn, sie hatte sogar seine Adresse in München. Eva nahm dankend ihr Angebot an, dort anzurufen. Während sie eifersüchtig auf einem Mandelkeks herum kaute, wählte Victoria die Nummer der Residenz Bogenhausen. Dort erfuhr sie von einer gewissen Frau Kerner, dass Janus Steinbach dort lebe, sich bester Gesundheit erfreue und schon lange keinen Besuch mehr bekommen habe. Wer sie denn sei, warum sie sich für ihn interessiere, wollte Frau Kerner wissen. Man habe einige Prominente in der Einrichtung, daher frage sie grundsätzlich nach, um unliebsamen Reporterbesuch zu verhindern.

      “Hi.” Jetzt stand Magnus in der Küche. Er wirkte peinlich berührt.

       Eva hatte sich wieder gefangen.

       “Auch Tee?” fragte seine Mutter.

       “Äh, ja. Bitte.”

       Nur um irgendwas zu sagen, sprach Eva von München. Sie hatte gar keine Lust mehr auf den Trip, die Magie war futsch. Zu spät, Magnus schien interessiert. Was auch immer. Victoria schenkte aus.

      “Hallo.” sagte Rainer, der viel größer war, als Eva ihn in Erinnerung hatte.

       “Kann ich auch so einen Tee haben?”

       Eva fand, dass Rainer ein ziemlicher Schrank war. Sie hätte sich auch nicht gewundert, wenn er gesagt hätte “gib mir Whisky, Baby, die letzte Pulle ist schon wieder leer”. Sie hatte ein Wolf-im-Schafspelz-Gefühl, als er sie freundlich ansah und dabei einen Schluck Tee schlürfte.

      Hinter ihm kam Silke in die Küche. Die langen blonden Haare hatte sie nach hinten gebunden. Das enge graue T-Shirt saß schief. Als ihre Blicke sich trafen, wusste Silke, was los war. Sie wurde sauer. Eva war seine Cousine. Sonst hätte sie sich schon zurückgehalten. Sie war nur einmal jung. Wenn Männer rummachten, waren sie tolle Hechte, und sie sollte eine Schlampe sein, nur weil sie wusste, was sie wollte? Das fand Silke ziemlich blöd. Es war ihr auch egal, dass sie so einen Ruf an ihrer Schule hatte. Die verklemmten Hühner würden schon sehen, wohin sie das führte. Vermutlich in genau dieselbe Misere wie Silkes Mutter, die mit einem Juraprofessor verheiratet war, der seine Frau Mutti nannte, den sie zum Einkaufen nach Mandarinen und Reis schickte und der dann Orangen und Gries anbrachte. Das würde ihr auf gar keinen Fall passieren. Magnus war ein echter Gentleman, auch wenn Silke wusste, dass es nicht mehr als ein paar Momente mit ihm geben würde. Dafür sah er Eva zu oft an. Das war … krank … auch irgendwie süß, wie im Fernsehen. Eva würde sich beruhigen. Außerdem war es ja nicht gerade so, dass Silke die Hübsche und Eva das hässliche Entlein war. Sie lächelte etwas angestrengt.

      Eva war bedient, Selbstmitleid inmitten einer Menschenansammlung war einfach unmöglich. Sie entschuldigte sich unter einem Vorwand. Erst im Flur holte Silke sie ein.

       “Alles klar?” fragte sie.

       Eva blieb stehen, drehte sich um und ging schnell zu ihrer Freundin, wie um ihr ordentlich die Meinung zu geigen. Dann stand sie vor Silke, nahm den speziellen Geruch wahr und seufzte.

       “Ach … ja. Ich will nur … wir telefonieren.” Dann küsste Eva Silke auf die Wange. Bevor sie zurückweichen konnte, umarmte Silke sie fest. Eva erwiderte die Umarmung. Maik kam in den Flur und schlich zurück in die Küche, als er die Situation sah. Als Silke Eva nach einer Minute wieder los ließ, hatten beide Tränen in den Augen.

      *

      Seit Monaten hatte er nicht mehr so weit zurückgedacht. Janus saß lange am Fenster, nachdem Frau Kerner ihn über den Anruf informiert hatte. München war schön im Sommer. Früher hatte er gern im Café Luitpold gesessen und stundenlang dem Verkehr auf der Brienner Straße zugeguckt. Dann war er irgendwann ins Spatenhaus an der Oper gegangen, hatte sich mit seinen nichtsnutzigen Kumpanen eine zünftige Brotzeit genehmigt, dazu Weißbier getrunken, bis er kaum noch gerade sitzen konnte und dann ein Taxi in die Residenz genommen. Jahre waren so vergangen. Jetzt ging es aufs Ende zu, das merkte er deutlich. Seiner sterblichen Hülle hatte er nie besondere Beachtung geschenkt, hatte sie benutzt, gebogen und gezogen bis zur Neige. Jetzt war dann halt Feierabend. Bald. Sein morgendliches Seniorenkonfekt umfasste mittlerweile eine solche Batterie von Tabletten, dass er danach kaum noch etwas frühstücken mochte und meist mit einer Butterbrezel schon bedient war. Dabei gab es gutes Buffet. Alles andere wäre auch eine Unverschämtheit, bei den Schweinepreisen, die sie hier verlangten. Janus schätzte das junge Frischfleisch, das ihm buchstäblich den Arsch nachtrug. Nicht nur die jungen Schwestern, auch der ein oder andere Knabe war ihm mittlerweile begegnet, der sich hätte in Acht nehmen müssen, wenn Janus noch im Vollbesitz seiner Manneskraft gewesen wäre. Dieses Interesse hatte er erst hoch in den Fünfzigern bei sich entdeckt. Das eine oder andere Mal hatte er sein Geld ins Glockenbachviertel getragen und dann bedauert, dass er nicht früher darauf gekommen war. Immerhin, alles andere hatte er im Überfluss gegessen, geraucht, eingenommen und ausprobiert. Er war satt und müde.

      Den Versuch, zu vergessen, hatte er aufgegeben. Was er auch tat, es blieb dabei, dass er immer wieder träumte, von dem Tag an dem unten im Flur diskutiert wurde, als er gerade das Haus verlassen wollte, um für seine Schwester einzukaufen, als er dann die Schüsse hörte, die Stimme erkannte von Wilhelm, und von Rudolf, beides Männer, die Janus immer gehasst und gefürchtet hatte. Er konnte nicht sehen, was sich abgespielt hatte, etwas oder jemand fiel die Treppe hinunter, weitere Schüsse, dann war es kurz still. Er hatte den Atem angehalten, hatte gebetet, dass Gerda keinen Mucks machen würde, auch wenn sie schon seit einigen Stunden betrunken war und dann normalerweise schlief wie ein Stein. Jemand war gegangen, dann war es still gewesen. Gerda hatte gestöhnt hinter ihm in ihrem Schlafzimmer, er hatte wie angewurzelt dagestanden, mindestens fünf Minuten, erst dann einen Blick gewagt über das Geländer nach unten, hatte Wilhelm am Fuß der Treppe in seinem Blut liegen sehen. Janus hatte nichts gefühlt außer Angst, sicher kein Mitleid mit dem Mann, der ihn stets als Krüppel, als Schwachsinnigen und als wertloses Kanonenfutter bezeichnet hatte. Er hatte seine Schwester geweckt. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie verschwinden sollten. Gerda hatte lallend protestiert, er musste sie auf dem Weg nach unten stützen. Sie war erst über den Koffer gestolpert, der im ersten Stock im Weg stand, dann griff sie danach. Er war ihr zu schwer. Sie gab ihn ihm zu tragen, er stellte ihn ab. Sie insistierte, man könne das Haus nicht ohne Gepäck verlassen. Erst als er den Koffer leise fluchend nahm, gab sie Ruhe. Es war Zufall, nicht mehr, nicht weniger. Wilhelms Leiche hatte sie keines Blickes gewürdigt, falls sie ihn überhaupt bemerkt hatte. Als sie an die Tür der Dienstwohnung von Max klingelten, wunderte der sich nicht schlecht, Janus konnte sich noch gut erinnern, an den erstaunten Gesichtsausdruck, Gerda im Nachthemd, Janus, der Koffer. Max wunderte sich nicht über Gerdas Fahne, aber die beiden am helllichten Tag zu ihren Eltern außerhalb von Frankfurt zu bringen, war doch eine ungewöhnliche Anweisung. “Order von Wilhelm!”, fauchte Gerda ihn an. Sofort hatte Max den Koffer genommen und war voraus gelaufen zum Wagen. Einen Streit mit seinem humorlosen Chef wollte er nicht riskieren, der Feigling. Dann waren sie gefahren, und dann hatte es ein wenig später gebrannt. Janus hatte also recht gehabt, es war nicht vorbei gewesen. Max hatte den Löschzug gerufen, aber Wilhelms Arbeitszimmer und der ganze erste Stock waren wochenlang nicht mehr bewohnbar.

      Dass Wilhelm offenbar ein paar wirtschaftliche Fehlentscheidungen getroffen hatte, dass Gerda und er und natürlich auch Gustav und Maria plötzlich mittellos dastehen sollten, das hatte Janus schwer getroffen. Er hatte sich schnell an den Müßiggang gewöhnt, der möglich war, wenn nur alle dachten, dass er nicht bei Trost war. All das hatte zu Ende sein sollen, er hatte bereits angefangen, als Fensterputzer zu arbeiten – die erste Arbeit in seinem Leben. Er machte sie schlecht und er hasste es, sich von einfachen Leuten anschreien zu lassen. Gott sei Dank hatte dann seine Schwester den Koffer geöffnet.