Undercover. Manuela Martini. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Manuela Martini
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Shane O'Connor Krimi
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742759382
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der Atemmaske. Sogar die harmlose Geschichte am Strand hatte er nicht mehr so einfach wegstecken können. Obwohl er sie noch nicht einmal persönlich gekannt hatte. Für ihr Alter war sie gut in Form gewesen. Wie sie um ihr Leben kämpfte!

       Irgendwann gehen die Dinge schief. Und plötzlich befindet man sich auf der anderen Seite. Es sah so aus, als ob er die Grenze schon überschritten hätte. Die Grenze zwischen Licht und Schatten.

      Kapitel 4

      „Wie geht’s Ihnen, Shane?“, fragte der Arzt.

      Eine Frage aus dem Nichts aufgetaucht wie der Mensch, der sie stellte. Vielleicht hatte er es nur geträumt? Die aufgerissenen Augen. Die dunklen Flecken.

      Der Arzt lächelte gezwungen, eine Haarsträhne hing ihm in die Stirn, er schob sie zurück, lächelte immer noch.

      „In ein paar Tagen können Sie auf Krücken gehen. Sie haben Glück gehabt, dass die Kugel nicht den Knochen oder gar die Arterie Ihres Oberschenkels durchschlagen hat.“ Das Lächeln verschwand, die hohe, glatte Stirn des Arztes durchzogen Falten. „Sie haben großes Glück gehabt, Shane.“

      „Warum?“, hörte Shane seine eigene Stimme. Sie klang schwach und fremd.

      Der Arzt holte tief Luft und strich sich das Haar aus dem Gesicht.

      „Ein Kollege wird Ihnen erklären...“, begann der Arzt.

      „Hören Sie auf, mit diesem Scheiß, Doc!“, fuhr Shane hoch. „Sagen Sie mir die Wahrheit! Haben sie überlebt? Haben meine Kollegen überlebt?“ Er hatte geschrien.

      „Ich schicke jemanden...“ hörte er noch den Arzt sagen, dann versickerte die Stimme irgendwo in einer lautlosen Dunkelheit.

      Sie waren alle tot. Jack lebte nicht mehr. Jack, mit dem er nächtelang über Fälle gegrübelt, Verdächtige vernommen, Protokolle verfasst, Meetings durchgestanden hatte. Evans, der junge, immer gutgelaunte Kollege von der Fingerabdruckabteilung. Hawking, der nach Weihnachten heiraten wollte. Shane schloss die Augen und wollte sie nicht mehr aufmachen müssen.

      Der erste, der ihn besuchte, war Pater Timothy, der Seelsorger. Ein Mann, der mit seiner großen, stämmigen Statur und seinen ruhigen, sparsamen Bewegungen Zuversicht und Vertrauenswürdigkeit ausstrahlte. Der Pater hatte sich einen Stuhl ans Bett geschoben, und redete doch Shane sah zum Fenster hinaus. Das obere Drittel war graublau. Den Mittelgrund füllte eine gelbliche Hauswand aus, und den Vordergrund beherrschte eine lichte Baumkrone. Es war Sommer, und kurz vor Weihnachten. Kim, seine Exfrau heiratete wieder. Er wollte nicht mehr da hinaus. Nie mehr.

      „Shane, Sie dürfen nicht verzweifeln...“

      „Pater“, fiel Shane ihm irgendwann müde in seine Ausführungen, „ich bitte Sie um eins: Gehen Sie.“

      Der Pater verstummte und sah ihn nur mitfühlend an. „Wenn Sie mich brauchen, dann sagen Sie Bescheid.“

      Die Tür fiel ins Schloss. Shane starrte an die weiße Wand vor sich.

      Ein paar Wochen zuvor sitzt er mit Jack im Auto. Die Scheibenwischer schieben die Regentropfen weg, die Neonlichter der Läden und die Scheinwerfer der Autos leuchten bunt in der schwarzen Nacht. Jack redet von Gott, weil er sich seit einiger Zeit mit der Bibel beschäftigt. „Man braucht etwas, woran man glauben kann“, hat er Shane erklärt.

      „Kain erschlug seinen Bruder“, er hält an einer Ampel, „weil Gott dessen Opfer mehr beachtete als Kains. Was will uns Gott damit sagen?“

      Shane ist müde und antwortet nicht.

      „Er will uns sagen: Seht her, ihr seid NICHT alle gleich und manche von euch schätze ich mehr als andere. Ich bin nicht gerecht! Gott ist willkürlich. Das ist die Wahrheit. Und wir sind seiner Willkür ausgeliefert.“

      Na und, denkt Shane, ob Gott oder das Schicksal willkürlich ist, ist letztlich egal, doch er sagt es nicht, weil Jack sowieso schon einen roten Kopf vor Erregung hat, und weil Shane weiß, dass solche Gespräche zu nichts führen.

      „Er ist ungerecht und grausam“, redet Jack weiter, „weil wir uns vom Teufel haben verführen lassen, der Schlange im Paradies. An diesem Apfelbissen – es soll ja eine Feige gewesen sein – haben wir immer noch zu kauen.“

      Shane deutet auf die längst grüne Ampel.

      „Soll ich dir was verraten, Shane“, sagt Jack ohne auf die Ampel zu achten, „Gott hasst uns. Gott hasst seine eigenen Geschöpfe und damit sich selbst. Er ist gescheitert und konnte es nicht zugeben. Warum hat er denn nach der Sintflut nicht noch mal ganz von vorn angefangen? Warum hat er sein Werk doch hinüberretten müssen? Ich sage dir, er ist inkonsequent und eitel. Er hätte alles ersaufen lassen sollen. Alles! Und wir müssen nun seinen Hass auf sich ertragen. Tag für Tag. Generation für Generation. Er hat seine Schuld auf uns abgeladen.“

      Shane schluckte die Schmerztabletten, die auf seinem Nachttisch lagen.

      Nach Pater Timothy besuchte ihn Detective Sergeant Al Marlowe, der Koordinator der Mordkommission. Marlowes Gesicht war grau und zerknittert. Er, sonst laut und polternd wirkte gebückt und kraftlos. „Mann Shane“, sagte er leise und schüttelte den Kopf, „ich weiß nicht, was ich ...“ Dann wendete er sein Gesicht ab.

      Al Marlowes Geburtstagsparty im Pub:

      Alle Kollegen waren ausgelassen. Sie hockten an der Bar.

      „Ich kann kaum glauben, dass unser Geburtstagskind zu Hause so miesepetrig sein soll!“, erinnerte sich Shane, gesagt zu haben.

      „Würde ich von dir auch nicht glauben!“ Jack hatte schon eine schwere Zunge. Seine Augen, die in dem runden Gesicht mit der blanken Glatze während des langen Abends immer schmaler geworden waren, glänzten bierselig. Evans und Hawking, die beiden Detectives aus der Fingerabdruckabteilung grinsten. Plötzlich wurde Jack ernst.

      „Wisst Ihr, was wir alle gemeinsam haben? Jeder Polizist will ein Held sein.“

      Hawking schüttelte den Kopf.

      „Also, ich will kein Held sein. Helden sterben zu früh.“

      Irgendwann sahen der Wirt und die Bedienungen übermüdet aus und die Bewegungen, mit denen sie Gläser abtrockneten, waren schwerfälliger geworden. Die Luft nur noch Teer und Nikotin, saurer Atem und Schweiß. Auf dem hölzernen Boden standen dunkle Bierpfützen. Und die Musik war längst verstummt.

      Jemand stießt die Tür auf.

      Jetzt sah Shane es wieder vor sich: Auf dem ausgedehnten, kaum beleuchteten Parkplatz standen nur noch drei Autos. Die meisten der Kollegen hatten sich von ihren Frauen bringen lassen oder gleich ein Taxi genommen.

      Al und ein kleine Gruppe Kollegen torkelten aus dem Eingang und Al bot ihnen an, im Taxi mitzufahren.

      Ein orangefarbenes Taxi rollte fast lautlos aus der Dunkelheit heran und hielt direkt vor Al. „Ich sollte vielleicht mit euch kommen, ein bisschen Luft könnte mir auch nichts schaden.“

      „Quatsch, Al“, jemand neben ihm riss den Schlag auf, „das Geburtstagskind fährt jetzt heim.“

      Shane erinnerte sich, wie Al ergebend die Schultern gezuckt und beim Einsteigen gesagt hatte:

      „Jungs, diese Party werd’ ich mein Leben nicht vergessen!“

      Der Kollege warf die Tür zu, zwei andere stiegen hinten ein, dann fuhr der Wagen davon. Gleichzeitig bogen drei weitere Taxen auf den Parkplatz ein, die Männer stiegen ein, Türen schlugen zu, die Taxen fuhren weg.

      Am Pub war das Neonschild erloschen. Sie waren nur noch zu viert. Vor ihnen lag schwarz der geteerte Parkplatz, über den wie ein Schleier das schwache Licht einer einzelnen Laterne fiel.

      „Also, kommt ihr jetzt?“, hatte Hawking gesagt. Und dann waren sie losgegangen...

      Unter Al Marlowes Augen hingen schwere Tränensäcke. Warum war er nicht einfach zu Hause