“Das liegt wahrscheinlich daran, dass du nicht James Bond bist und ich nicht Indiana Jones”, murrte Thomas sarkastisch.
“Pass mal auf, Dr. Besserwisser!”, zischte Jerry seinen Bruder an, “ich bin nicht hierher ausgewandert, um mich ausgerechnet von dir hier unschuldig ins Gefängnis bringen zu lassen. Geh mir jetzt nicht mit irgendwelchen saublöden Sprüchen auf den Keks, und strapazier meine Hilfsbereitschaft nicht unnötig. Und mal ganz abgesehen davon würde es mich auch nicht wundern, wenn du dich in deinem Größenwahn wirklich für Indiana Jones halten würdest, weil du Harrison Ford so verblüffend ähnlich siehst. Auf der anderen Seite bezweifle ich allerdings, dass du überhaupt weißt, wer Indiana Jones und Harrison Ford sind.”
“Stell dir vor, das ist mir bekannt”, zischte Thomas zurück.
“Wunder gibt es immer wieder”, bemerkte Jerry kopfschüttelnd, “und jetzt halt die Klappe.”
Thomas war zwar sehr erbost, weil Jerry ihn so schroff behandelte, aber er beschloss, mal lieber keine Widerworte zu geben. Außerdem fühlte er sich einfach nur entsetzlich. Und er hatte eine Heidenangst. Was, wenn ihre Verfolger sie beide doch noch schnappten? Dann war Jeremiah mit dran. Und obendrein kannte der noch nicht einmal die ganze Geschichte.
Oh weh, dachte Thomas, hoffentlich fragt Jeremiah nicht zu früh nach den Einzelheiten dieser verpatzten Aktion, sonst lässt er mich nachher doch noch im Stich. Obwohl das auch irgendwie unlogisch wäre, denn ihm wird schon klar sein, dass man im Grunde der Drogenmafia nicht entfliehen kann. Unsere einzige Chance ist die, dass ich nach New York zurückkomme bzw. Philip kontaktieren kann, damit der das Beweismaterial präsentiert. Aber... oh nein, das wird nichts nützen, wenn Philip das Beweismaterial ins Spiel bringt, weil meine Gegner behaupten werden, das sei nur ein Trick, und die Unterlagen seien gefälscht, denn ich hätte das nur zusammengestellt, um die Drogenbarone unter Druck zu setzen und von mir abzulenken. Vielleicht hätte ich das auch als Schachzug benutzt, um Ramírez kaltzustellen und mir einen neuen Geschäftspartner zu suchen, bei dem mehr Geld für mich herausspringt. Also, Thomas, deine einzige Chance ist die, dass du beweist, dass man dich hereingelegt hat, und zwar ausgesprochen geschickt, so dass du deinen Gegnern nie wieder in die Quere kommen kannst.
“Kannst du mal schauen, ob hier im Wagen irgendwo eine Karte ist?”, wurde er von Jerry aus seinen Gedanken gerissen.
Thomas kramte und fand eine. Jerry bog von der Straße in einen Feldweg ab und parkte den Jeep hinter einem Strauch, so dass der Wagen von der Straße aus nicht sofort zu sehen war.
“Gib mal her!”
Jerry studierte die Karte und reichte sie Thomas zurück.
“Okay, du wirst mich jetzt führen. Pass auf, wir werden jetzt auf Nebenstraßen nach Caripito fahren und weiter runter nach Maturín. Mit ein bisschen Glück werden wir es bis dahin schaffen, ehe sie Straßensperren errichten und uns auch in diesem Gebiet suchen. Mal sehen. Und anschließend geht’s zu Fuß weiter.”
“Zu Fuß weiter?”, entgegnete Thomas ungläubig, “soll das ein Scherz sein?”
“Nein, das ist mein voller Ernst, Tom!”, erwiderte Jerry trocken.
“Aber dann haben sie uns doch sofort! Warum stellen wir uns nicht gleich an die Straße und winkten und rufen, damit sie uns mitnehmen!”
Thomas war ziemlich sauer.
“Du hast echt keine Ahnung, Tom. Wir können nicht ewig mit dem Jeep abhauen. Irgendwann kommen wir nicht weiter, weil sie das Kennzeichen und die Beschreibung des Wagen und unserer Person an jede Polizeidienststelle im Lande weitergegeben haben. Wir sind hier zwar in Südamerika, aber der technische Fortschritt ist auch bis hierher gekommen. Und sie sind zu viele. Wir können nicht durch ihr Netz schlüpfen, wenn wir nach ihren Regeln das Spiel spielen. Deshalb haben wir nur eine winzig kleine Chance, wenn wir ihnen entwischen wollen, und die lautet: Zu Fuß durch unbewohntes Gebiet. Im Klartext: Quer durch den Dschungel rüber nach Brasilien oder Guyana. Wohin, das entscheide ich dann spontan.”
“Ach, das entscheidest du dann spontan! Meinst du nicht, dass ich da auch noch ein Wörtchen mitzureden habe, hä?!”, ereiferte sich Thomas.
“Nein, hast du nicht. Erstens kennst du dich hier nicht aus, und zweitens denke ich nicht, dass du einen konstruktiven Beitrag leisten wirst, nachdem du schon so viel Mist gebaut hast.”
Damit ließ Jerry den Motor wieder an und fuhr zurück auf die Straße.
Jerrys Plan ging auf. Sie schafften es wirklich bis Maturín mit dem Jeep. Jerry fuhr noch ein bisschen weiter nach Süden und hielt schließlich in einem kleinen Dorf, durch das sie kamen, in einer Seitenstraße an.
“Warum hältst du an?”, fragte Thomas, der die ganze Zeit über geschmollt und den Bruder lediglich gelotst hatte.
“Muss ein paar Sachen für unseren Sonntagsspaziergang kaufen”, brummte Jerry und peilte die Lage, “okay, rutsch’ rüber auf den Fahrersitz!”
Weil Thomas ihn nur irritiert ansah und nicht gleich gehorchte, ranzte Jerry ihn an: “Na, was ist? Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Wir haben nicht in alle Ewigkeiten Zeit!”
“Wie redest du denn mit mir?! Ist ja schon gut, ich mach schon. Aber warum? Was hast du vor?”, rechtfertigte sich Thomas und schwang sich hinters Lenkrad.
“Wie ich schon sagte, ich werde jetzt einige Einkäufe tätigen. Falls irgendjemand mich erkennt oder es Anzeichen dafür gibt, dass unsere Verfolger uns doch aufgestöbert haben, fährst du los. Wenn möglich, gabelst du mich vorher noch auf. Wenn nicht, fahr! Ist das klar?! Wir müssen uns dann halt trennen, wenn es nicht anders geht.”
“Hm, dabei ist mir aber gar nicht wohl”, räumte Thomas ein, “ich meine, wenn wir uns trennen müssen, dann kann ich mich auch gleich umbringen. Ich kann kaum Spanisch und falle überall auf wie ein bunter Hund! Und ich kenne mich hier nicht aus, im Gegensatz zu dir!”
“Du hast ‘ne Karte!”, gab Jerry zurück, “und hör’ das Jammern auf!”
“Das war eine rein sachliche Bemerkung”, murrte Thomas, aber Jerry war schon zu dem kleinen Lebensmittelladen losgegangen.
Alldieweil beobachte der Richter die Straße. Alles schien ruhig. Ab und zu sah ihn einer der Passanten schräg von der Seite an, als wolle er sagen: Was bist du denn für ein komischer Kauz? Du gehörst doch auch nicht hierher! Aber sonst geschah nichts Außergewöhnliches.
Der Laden ist doch gar nicht so groß, dachte Thomas. Selbst wenn Jeremiah alles aufkauft, was die haben, müsste er doch schon längst wieder zurück sein.
Thomas wurde unruhig. Vielleicht hatten sie Jeremiah geschnappt und pirschten sich jetzt an den Jeep ran. Aber er entdeckte auch keinen Polizisten auf der Straße.
Was für ein elendes Nest! dachte Thomas. Hier ist die Welt mit Brettern zu. Ein Wunder, dass die Hauptstraße überhaupt geteert ist.
Die Seitenstraßen hatten allerdings nur festgestampften Lehm als Belag. Der Supermarkt, in den Jeremiah gegangen war, würde in New York unter “historischer Tante-Emma-Laden” ein Museumsdasein fristen. Und die Häuser hätten auch mal ein paar Eimer Farbe gebraucht. Und nicht nur das. Dort vorn war allerdings eine Apotheke.
Unglaublich, dachte Thomas, die haben da bestimmt nur Naturheilmittel und Kräutertees. Das wäre was für die ganzen Alternativen und Ökospinner, die würden da reinpilgern wie in einen Tempel. Oh Mann, was für ein Alptraum. Ich wünschte, es wäre einer. Aber mir scheint, es ist keiner. So schlecht kann man doch gar nicht träumen.
Thomas war sehr erleichtert, als er Jerry endlich wieder erblickte. Allerdings sah er ihn aus der Apotheke kommen. Er hatte doch wohl nicht im Ernst da Medikamente gekauft?
Jerry kam schnurstracks über die Straße und hielt auf den Jeep zu.
“Na, alles klar?!”, fragte er mit - aus Thomas’ Sicht - einem provokanten Unterton in der Stimme.
“Ja”,