Jerry wandte sich um, und Thomas schloss die Handschellen wieder auf.
“Also, dass du mich gefesselt hast, war ja wohl echt die Härte!”, murrte Jerry verärgert, während er sich die Handgelenke rieb.
“Kleines Missverständnis”, lenkte Thomas ein.
“Dann möchte ich aber nicht wissen, was du im Falle eines großen Missverständnisses machst”, brummte Jerry immer noch beleidigt.
“Ja, sorry, tut mir leid”, versuchte Thomas, Jerry zu besänftigen, “und, was schlägst du vor?”
“Lass uns das Gepäck schultern, und dann nichts wie ab. Wir haben schon genug Zeit durch unsere nutzlose Streiterei verloren.”
Jerry schnappte sich den Seesack und lud Thomas den Rucksack auf. Als er ihm das Gepäckstück hinhielt, bemerkte er, dass Thomas blutete.
“Warte mal, was ist das denn?”, meinte er.
“Wieso, was meinst du?”, gab Thomas zurück.
“Du blutest”, entgegnete Jerry und sah den Bruder sorgenvoll an.
“Ach, ist bestimmt nur ein kleiner Kratzer.”
“Du solltest das nicht zu leicht nehmen, Tom, damit ist nicht zu spaßen. Ich werde mir das später mal ansehen. Es ist nämlich nicht angebracht, dass du hier den Helden spielst. Wenn sich das entzündet und du Fieber kriegst, brauchen wir nämlich erst gar nicht loszugehen.”
“Meinetwegen sieh es dir an, aber wenn wir uns jetzt nicht langsam beeilen, brauchen wir wirklich nicht mehr loszugehen”, drängte Thomas.
“Okay, dann wollen wir mal, Tom”, stimmte Jerry zu, “alles hört auf mein Kommando!”
Er sah den Bruder grinsend an und ging voraus.
“Und denk daran, Jeremiah”, entgegnete Thomas mit gespieltem Ärger, “mein Name ist Thomas!”
“Alles klar, ich werd’s mir merken, Tom!”
“Ich werd dir Beine machen!”, meinte Thomas jetzt doch ein wenig säuerlich.
Jerry spurtete vorsichtshalber ein Stückchen voraus. Als er merkte, dass Thomas ihm nicht hinterher kam, verlangsamte er sein Tempo und drehte sich um.
“Na, was ist, wo bleibst du denn? Wir sind auf der Flucht!”
“Hey, ich bin schon etwas älter”, konterte Thomas.
“Etwas älter”, erwiderte Jerry spöttisch, “wie alt bist du jetzt... neun und vierzig oder schon fünfzig?!”
“Ich werde in ein paar Wochen fünfzig.”
“Na, dann wollen wir doch mal sehen, dass du zu deinem runden Geburtstag wieder im Kreise deiner Lieben bist”, meinte Jerry aufmunternd.
“Das macht mir jetzt echt Mut”, gab Thomas erfreut zurück.
“Nur dass ich leider nicht in den Kreis meiner Lieben zurückkehren kann”, seufzte Jerry.
“Wieso? Das tust du doch, wenn wir es bis nach New York schaffen.”
“Diese lieben Verwandten in Amerika meinte ich auch nicht”, erklärte Jerry, “sondern meine neue Familie in San Juan.”
“Aber wenn das hier vorbei ist, kannst du doch zurückgehen.”
“Wenn das hier vorbei ist, werde ich nie wieder in San Juan de las Galdonas vorbeischauen können”, erwiderte Jerry missmutig, “ich habe den Ort und mein trautes Heim heute zum letzten Mal gesehen!”
“Wieso, ich bin doch unschuldig!”
“Das ist doch egal, ob du unschuldig bist oder nicht! Wenn du unschuldig bist, habe ich anschließend die Drogenbarone am Hals, weil die sauer sind, dass ich es ihnen vermasselt habe, dich zu kriegen. Wenn du schuldig bist, dann habe ich einem Verbrecher zur Flucht verholfen.”
“Aber ich bin unschuldig, und außerdem werde ich die Drogenbarone fertigmachen!”, fuhr es aus Thomas heraus, “ich habe echt geniales Beweismaterial. Und ich werde meine Unschuld beweisen. So schnell gebe ich nicht auf. Dann kannst du an deinen geliebten Strand zurück!”
“Träum’ weiter, juristischer Held. Kein Mensch kann die Drogenbarone fertigmachen.”
“Doch, ich kann es schaffen mit dem Beweismaterial, das ich habe!”
“Sicher”, entgegnete Jerry müde.
“Du glaubst mir nicht!”, erregte sich Thomas.
“Nein, und bitte hör jetzt auf damit. Es ist mir so egal. Ich bin müde und genervt. Erzähl es mir ein anderes Mal. Und glaub mir, diese Geschichte interessiert mich wirklich. Ich werde dich mit Sicherheit daran erinnern, sie mir zu erzählen. Das wäre nicht nur eine nette Unterhaltung vor dem Schlafengehen, sondern auch extrem wichtig, damit ich weiß, was gelaufen ist.”
“Du nimmst mich nicht ernst!”
“Doch, das tue ich. Und ich meine es sogar sehr ernst. Wir können nämlich nicht im Dunkeln durch den Dschungel wandern. Das ist ausgeschlossen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit, so gegen 18.30 Uhr bis 19.00 Uhr sind es nur noch knapp zwei Stunden. Dann müssen wir rasten. Also, lass uns mal ein bisschen Tempo machen, damit wir heute noch ein gutes Stück vorankommen und unseren Vorsprung ausbauen.”
Jerry zog das Tempo an, und schweigend wanderten sie hintereinander her.
Für einen Taugenichts ist er erstaunlich clever, dachte Thomas, Jeremiah hat wirklich an alles gedacht. Sogar an einen Kompass. Und er besitzt ebenfalls ein Buschmesser. Das kommt uns hier sehr zunutze.
Weil sie sich in Äquatornähe befanden, brach die Dunkelheit sehr schnell herein. Jerry hatte gerade einen geeigneten Platz zum Lagern ausgesucht, da wurde es auch schon dunkel. Thomas fühlte sich unbehaglich. Der Wald war voller unbekannter Geräusche, feucht, dunkel und unheimlich. Außerdem musste es eine Ewigkeit her gewesen sein, dass er im Freien übernachtet hatte. War es in einem Ferienlager in seiner Kinderzeit gewesen oder beim Militär? Thomas hatte es schon in seiner Kindheit gehasst zu zelten oder Nachtwanderungen zu machen. Er fand das absolut sinnlos, weil man doch genügend Geld hatte, um in einem richtigen Bett schlafen zu können, und nachts sah man eh nichts, wozu also im Dunkeln durch die Gegend laufen und womöglich noch über die eigenen Beine fallen.
Von daher war Thomas froh, dass Jerry eine kleine Petroleumlampe angezündet hatte, die wenigstens den Platz, wo sie lagerten, ein wenig erhellte. Jerry kramte in dem Seesack und beförderte einige Lebensmittel zu Tage. Erst jetzt merkte Thomas, was für schrecklichen Hunger er hatte.
Jeremiah hat wirklich an alles gedacht, dachte Thomas anerkennend, Kompliment.
Der Bruder kam auf ihn zu und reichte ihm eine Art Riesenkräcker, ein ziemlich hart gebackenes Brot.
“Hier, Abendbrot”, meinte er, “teil’s dir gut ein, mehr gibt’s nicht. Wir müssen sparen mit unserem Proviant.”
“Was hast du denn gekauft?”, wollte Thomas wissen.
“Einige von diesen Broten und Tütenfutter, das man mit Wasser zubereiten kann. Außerdem hab ich einen kleinen Spirituskocher dabei, weil man ja hier kein Feuer machen kann. Es ist zu nass. Und ich wollte auch den Regenwald nicht abfackeln.”
“Und wie sieht’s mit Wasser aus?”
“Ich habe welches in der Feldflasche. Und ich habe ein paar Plastikschüsseln gekauft, die können wir aufstellen, wenn es regnet. Wir sollten aber trotzdem vorsichtig damit umgehen. Ich weiß nicht, wie ergiebig das sein wird, wenn wir Regenwasser in Schüsseln auffangen. Ferner werden wir es zur Sicherheit abkochen und Kaffee machen. Du wirst in der nächsten Zeit ziemlich viel Kaffee trinken, Bruderherz!”
Jerry sah seinen Bruder grinsend an.
“Auf