Winterkönig. N. H. Warmbold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: N. H. Warmbold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742783073
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deinen Brief bestimmt mitnehmen“, schlug Sina vor.

      „Das … also, das wäre mir nicht so Recht. Gibt es keinen anderen Weg?“

      „Das wäre dir nicht so Recht …“, lachte Sina. „Tja, es gäbe natürlich noch die Möglichkeit, einen Wächter am Osttor zu bitten, deinen kostbaren Brief einem Händler mitzugeben, wenn dir das lieber wäre.“

      „Meine Briefe sind nicht kostbar, nur persönlich. Aber ich kenne keine Wächter am Osttor“, wandte sie ein.

      „Süße Mara, rein zufällig kenne ich einige Angehörige der Stadtwache. Ich kann dir sagen, an wen du dich wenden musst, in Ordnung?“

      „Ja, gut. Aber erst einmal muss ich richtig Manduranisch lernen, bevor ich überhaupt Briefe schreiben kann“, erklärte sie. „Lorana sagte, es gäbe keine großen Unterschiede in der Schrift.“

      „Wenn sie das sagt. Gedenkst du eigentlich, am Unterricht im Schwertkampf teilzunehmen?“

      „Natürlich, ich halte das für notwendig“, sie lächelte verhalten. „Und außerdem möchte ich es unbedingt lernen.“

      „Das höre ich gern, dann sehen wir uns also morgen Nachmittag. Schlaf schön, meine Süße, und träume süß.“

      „Gute Nacht, Sina.“

      Selten in ihrem Leben war Mara so beschäftigt gewesen wie in jenen ersten Tagen im Tempel von Samala Elis, und sie genoss jeden Tag.

      Bei Sonnenaufgang stand sie auf und ging erst spät nachts schlafen, fiel todmüde in ihr Bett. Leider hatte sie fast jede Nacht Alpträume, doch daran war sie ja gewöhnt. Es war nicht immer derselbe Traum vom Krieg in Mandura, aber es ging gewalttätig zu und meist floss Blut. Und sehr oft tauchte Reik auf, obwohl sie kaum an ihn dachte und auch nichts von ihm hörte oder sah.

      Lorana schien überaus interessiert an dem, was sie träumte, doch Mara erzählte ihr nicht alles, nicht alle Einzelheiten. Die Unterredungen mit ihr waren faszinierend und anstrengend zugleich, erbitterte Wortgefechte. Weder die Hohepriesterin noch Mara waren bereit, mehr an Wissen, Nichtwissen und Informationen preiszugeben als unbedingt notwendig. Und doch lernte Mara bei diesen Gesprächen viel, lernte, sich zu beherrschen, ihre Gefühle nicht ungewollt ihrem Gesprächspartner mitzuteilen, Gestik, Mimik und ihre Stimme zu kontrollieren. Es fiel ihr nicht sehr schwer, hatte sie das nicht ihr Leben lang getan, nur nicht so absolut, wie Lorana es jetzt von ihr erwartete? Ständig wies diese Mara auf das ungeduldige Wippen ihres Fußes, ein nervöses Spielen der Finger hin, außerdem kaute Mara auf ihrer Unterlippe.

      Von der Hohepriesterin lernte sie aber auch, wie sie durch gewollte oder gespielte Gefühlsäußerungen ihr Gegenüber beeinflussen und täuschen konnte. Lorana brachte ihr zudem bei, sich in kürzester Zeit vollständig zu entspannen, selbst dann, wenn sie wieder einmal heftige Kopfschmerzen plagten, um sich dann voll und ganz auf einen einzigen Gedanken, eine Sache, ein Bild zu konzentrieren.

      Im Archiv des Tempels fanden sich etliche Schriftrollen und Papiere, die in der Alten Sprache abgefasst waren, also lehrte Lorana sie auch diese. Die Schrift sah gänzlich anders aus als die Mara bekannte. Es gab keine einzelnen Buchstaben, nur Symbole und Zeichen, die für Silben, teilweise für ganze Worte oder Begriffe standen. Lorana hatte Probleme beim Lesen dieser Schrift, konnte lediglich die Übertragungen in manduranischer Schrift entziffern. Es gab aber auch Papiere ohne diese Übertragungen, meist sehr alte. Da niemand sich die Mühe gemacht hatte, sie in ‚lesbare‘ Schrift zu übertragen, hielt Lorana sie für unwichtig. Allerdings erlaubte sie Mara, die Schriften mit auf ihr Zimmer zu nehmen, wenn sie ihre Nächte unbedingt mit derlei Kram ‚verplempern‘ wollte.

      Bald schon bog sich Maras Schreibtisch unter alten Schriftrollen und mit ihren Anmerkungen versehene Bögen, abgefasst in einer wilden Mischung aus Südländisch, Manduranisch und der Alten Sprache. Die Ausbeute war nicht sehr ergiebig, es sei denn, man interessierte sich für die Tischsitten und Gebräuche zu Zeiten eines König Olofs, für Rezepturen für Schönheitswässerchen und ‚garantiert wirksame‘ Liebestränke.

      Immerhin konnte Mara nach einiger Zeit die Schrift fließend lesen und schreiben. Und bei Weitem nicht alles war so unwichtig, wie Lorana glaubte. Allerdings war das Wenige, was sie wirklich interessierte, schwer nachzuvollziehen, klang wirr und erschien ihr verrückt, wenn nicht gar gefährlich.

      Zu den Anmerkungen und Übertragungen der Papiere aus dem Tempelarchiv gesellten sich Notizen und Zeichnungen aus dem Unterricht der Heil- und Kräuterkunde. Diesen erhielt Mara gemeinsam mit Milla und den anderen Priesterschülerinnen, auch wenn sie selbst keine Schülerin war und nicht Heilerin werden wollte. Die Mädchen halfen jeden dritten Tag den Heilerinnen bei der Versorgung und Pflege der Kranken in den Häusern und erhielten dort praktischen Unterricht.

      Milla mochte die praktische Arbeit, mehr als die trockenen Lehrstunden über die Wirksamkeit bestimmter Kräuter und die Herstellungsweisen von Tees, Salben und Tinkturen. Ihr Motto war, dass es besser war, den Menschen zuzuhören, statt mit ihnen über die Funktion ihrer Organe zu diskutieren.

      Und Mara schrieb alles auf, dürstete nach Wissen, obwohl sie doch keine Angst haben musste, etwas zu vergessen. Sie vergaß nicht. Ihre Gedanken schienen sich zu ordnen, wenn sie schrieb, wurden klarer, sie sah klarer.

      Sie verbrachte ihre Zeit aber nicht allein im Tempelarchiv, in den Häusern oder hinter dem Schreibtisch. Mit Réa ging sie alle paar Tage in die Stadt hinunter, in den Stadtteil, der zwischen Hafen und Westtor lag, und in dem viele arme Familien lebten. Réa unterrichtete dort Kinder, deren Eltern sich einen Lehrer nicht leisten konnten, im Lesen und Schreiben, im Rechnen, in der Geschichte des Landes Mandura, erzählte alte Legenden und sang mit ihnen Lieder.

      Die Kinder kamen gern zu ihr, es war für sie eine willkommene Abwechslung in ihrem oftmals harten Alltag, und Réas Unterricht in dem engen Hinterzimmer eines Gasthauses war die einzige Möglichkeit, sich solche Kenntnisse anzueignen. Oft kamen Kinder aus dem Hafenbezirk, manchmal ohne irgendwelche Angehörige, die ihr Leben auf der Straße verbrachten, in dunklen Kellerecken oder verlassenen Häusern schliefen, sich mit Betteln und Diebstählen durchschlugen. Da sie nur unregelmäßig zum Unterricht kamen, war es schwierig, ihnen etwas beizubringen, doch wenn sie kamen, waren sie mit genau so viel Begeisterung bei der Sache wie die anderen Kinder.

      Den meisten Spaß machte den Kindern das Singen. Réa brachte ihnen ein Lied bei, dessen einzelne Abschnitte sie, Mara und die Kinder jeweils allein zu singen hatten. Es wurde eine Tradition, dieses Lied jedes Mal am Ende des Unterrichts zu singen, richtig laut, bis dass die Wände zu wackeln der Putz von der Decke zu rieseln schien.

      Ähnlich erging es Mara, wenn sie mit den anderen Priesterinnen im Tempel sang. Dann vibrierte der Boden aber wirklich. Die Priesterinnen sahen Mara misstrauisch und beunruhigt von der Seite an, aber sie zuckte bloß lächelnd mit den Schultern.

      Lorana meinte, das sei in Ordnung. Solange die Menschen während der Zeremonien nicht schreiend aus dem Tempel liefen, aus Angst, er könnte einstürzen.

      Natürlich lief niemand davon, ganz im Gegenteil. Wie Réa ihr erzählte, kämen einige Leute angeblich nur zu den feierlichen Handlungen in den Tempel, um Mara singen zu hören. Das wiederum gefiel Lorana gar nicht. Vermutlich störte es sie, dass nicht sie, die doch die Rituale leitete, alle Aufmerksamkeit auf sich zog.

      Mara war es anfangs peinlich, wie die Menschen sie ansahen, während sie sang, doch sie gewöhnte sich schnell daran, die Beachtung gefiel ihr sogar. Selten sang sie ja allein im Tempel, meist zusammen mit anderen Priesterinnen im Chor. Und mit Milla, die eine wundervolle Altstimme hatte, so dass sie sich perfekt ergänzten.

      Häufig sangen sie für sich allein, zu ihrem eigenen Vergnügen, oder für die Frauen nach den Übungsstunden und dem Schwerttraining, im Badehaus. Es waren oft Liebeslieder, weil Milla die so mochte und weil Mara gern mit Milla zusammen Liebeslieder sang. Manchmal, wenn Mara in der richtigen Stimmung war oder Sina sie lange genug drängte, sang sie die Lieder, die sie in Kirjat gesungen hatte.

      Von all den Dingen, mit denen Mara sich im Tempel beschäftigen musste, liebte sie den Unterricht