Winterkönig. N. H. Warmbold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: N. H. Warmbold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742783073
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weiß es nicht, Mara! Ich wüsste nicht mal, wie ich reagieren sollte. Vermutlich würde ich vor Angst davonlaufen.“

      Sie musterte Réa. Die junge Priesterin wirkte verzweifelt, und Mara hatte keine Ahnung, wie sie ihr helfen sollte. „Bist du denn gar nicht neugierig? Du sagtest, weder mit ihm noch mit einem oder einer anderen … Natürlich ist das deine Sache, jeder muss das für sich entscheiden, nur machst du nicht geraden einen glücklichen Eindruck auf mich.

      „Nein, glücklich bin ich wirklich nicht“, gab Réa zu.

      „Warum unternimmst du dann nichts dagegen?“

      Konsterniert blickte Réa sie an. „Wie bitte?“

      „Wenn du mit deiner Situation unzufrieden bist, warum änderst du sie dann nicht? Du hast doch alle Möglichkeiten dazu. Das wird niemand für dich tun, Réa, und schon gar nicht so, wie du dir das wünschst. Willst du den Rest deines Lebens damit verbringen, auf Reik zu warten, auf irgendein Wort von ihm? Was ist, wenn er nie zu dir kommt? Oder du irgendwann feststellst, dass das Warten sich nicht gelohnt hat? Was dann?“ Mara war überrascht von der Grobheit ihrer eigenen Worte.

      „Du bist grausam“, warf Réa ihr vor. „Hast Du überhaupt kein Mitgefühl?“

      „Doch, natürlich. Aber die Situation kommt mir gerade sehr bekannt vor.“ Wütend stand Mara auf und sah Réa verbittert an, die wie ein Häuflein Elend auf dem Bett saß. „Weißt du, genau das … Ach, vergiss es!“

      Ärgerlich stürmte sie aus dem Zimmer und ließ die Tür laut ins Schloss fallen. Manchmal verstand sie die Menschen nicht, begriff nicht, was sie von ihr erwarteten.

      Und sie sehnte sich nach Jula. Dabei hatte sie ihn erst am Vortag getroffen, wenn auch nur kurz. Er hatte kaum freie Zeit, höchstens einmal ein, zwei Stunden am Abend. Viel zu wenig also. Jula war leicht zu verstehen, er machte die Dinge nicht immer so kompliziert, sagte gerade heraus, was er dachte und wollte. Sie konnten offen miteinander reden, ohne Andeutungen, Vermutungen und halben Wahrheiten. Das Leben war einfach mit Jula.

      Das Kopfsteinpflaster auf dem Platz vor den Pferdeställen glänzte vor Nässe, aber wenigstens regnete es nicht mehr. Suchend schaute Mara sich nach Sina um, die sie zum Palast begleiten sollte. Ihr war nicht ganz klar, warum, der Weg war kaum zu verfehlen, aber Lorana hatte darauf bestanden, dass Mara in Begleitung ritt. Angeblich gehörte es sich so für eine wichtige Person wie sie.

      Mara hatte keine Lust, sich deswegen auch noch mit Lorana zu streiten. Die Frau war ohnehin nicht gut auf sie zu sprechen, aus welchen Gründen auch immer.

      „Hallo Süße, da bist du ja“, begrüßte Sina sie. „Hat dir heute schon jemand gesagt, wie hinreißend du aussiehst?“

      „Nein, heute noch nicht“, sie lächelte knapp.

      „Also, dann tue ich das hiermit. Dein Wallach ist gesattelt, du musst nur noch aufsitzen. Falls dieses schreckliche Tier es zulässt. Noch nie habe ich einen derart nervösen und launischen Gaul gesehen“, plauderte Sina weiter. „Soll ich dir helfen?“

      „Geht schon, danke“, lehnte Mara ab.

      Schweigend ritt sie neben Sina her. Sie genoss den Sonnenschein, denn in den letzten Tagen hatte es nur geregnet. Sie war nicht einmal trockenen Fußes von ihrem Zimmer ins Tempelarchiv gelangt.

      „Ich reiß dich nur ungern aus deinen Gedanken, süße Mara, und ich habe auch ganz bestimmt nichts gegen den Anblick deiner Beine. Aber könntest du den Rocksaum vielleicht ein wenig nach unten ziehen?“

      Irritiert blickte Mara erst zu Sina und dann auf ihre Beine. Sie errötete tief und schob schnell den Rock über ihre Knie. „Warum hast du das nicht früher gesagt?“

      „Weil mir deine Beine ausgesprochen gut gefallen“, antwortete Sina. „Außerdem waren wir bisher nur in eher unbelebten Straßen.“

      „Sehr witzig!“

      „Vielleicht ist das der Grund, warum Lorana darauf besteht, dass dich jemand begleitet“ fuhr Sina unbeirrt fort. „Du würdest einen Aufruhr verursachen, ohne es auch nur zu merken.“

      „Wie kommst du darauf, dass ich …“, versuchte Mara zu widersprechen. „Ich habe lediglich … Nun hör schon auf zu grinsen!“

      Sina zeigte sich von ihrer schlechten Laune wenig beeindruckt und grinste nur noch breiter. „Was wolltest du gerade sagen?“

      „Ich … ich verstehe das nicht!“, erklärte sie kopfschüttelnd.

      „Was denn?“, fragte Sina nach.

      „Alles!“

      „Nun, alles verstehe ich auch nicht. Was genau meinst du denn?“

      „Ach lass, es ist nicht wichtig.“

      Mara hätte es ihr auch nicht erklären können. Die Kopfschmerzen vielleicht und die Müdigkeit wegen der ständigen Alpträume, nicht aber ihre Unzufriedenheit, die Unruhe. Ja, sie lernte viel im Tempel, alle möglichen und unmöglichen Dinge. Doch sie wurde einfach das Gefühl nicht los, dass es nicht das Richtige war. Oder nur ein winziger Teil davon. Und Lorana verheimlichte ihr etwas. Die Papiere und Schriften aus dem Tempelarchiv waren unvollständig, es musste mehr geben. Mara hatte niemals etwas über Abstammungen, königliche Familien oder eine zeitliche Abfolge der einzelnen Könige gelesen, nichts über die Geschichte des Tempels. Sie hatte Lorana bereits mehrfach darauf angesprochen, doch diese hatte immer ausweichend geantwortet, als wisse sie nicht, wovon Mara sprach.

      „Sina, wer außer Lorana besitzt einen Schlüssel zu den Gewölben unter dem Tempel?“

      „Welche …“, irritiert musterte Sina sie. „Ach, die Gewölbe. Nur Lorana, soviel ich weiß.“

      Nur würde die Hohepriesterin den wohl nicht freiwillig herausrücken.

      „Kennst du das Gefühl, dass irgendetwas passieren wird?“

      Mit einem Mal wirkte Sina beunruhigt und schaute sie misstrauisch an. „Ja … jetzt zum Beispiel. Was hast du vor, Mara?“

      „Was muss ich tun, damit mich der König empfängt?“

      „Was willst du denn beim König?“ Sina klang alarmiert.

      „Das, was ich immer will. Aber nicht heute. Erst einmal bin ich bei der Königin eingeladen, und es wäre ausgesprochen unhöflich, zu spät zu kommen, findest du nicht auch?“ Ungeduldig trieb sie den Wallach an, ließ ihn die Steigung zur Festung hinauf galoppieren. Eine Gruppe Soldaten musste ihr hastig ausweichen. Mara musste lachen, als sie hinter sich ihre empörten Rufe und Sinas Beschwichtigungsversuche vernahm. Dann sprang sie vom Pferd.

      „Was soll das, Mara?“, rief Sina. „Jetzt renn doch nicht so!“

      „Ich habe es eilig“, entgegnete Mara.

      „Aber du kennst den Weg doch gar nicht.“

      „Stimmt.“ Abrupt blieb sie stehen, so dass Sina beinah in sie hineinrannte. Dann wandte sich an den nächsten Gardisten, der sich sichtlich bemühte, ernst zu bleiben. „Könntet Ihr mir freundlicherweise den Weg zur Königin zeigen?“

      „Seid Ihr Mara I’Gènaija?“, fragte der Mann.

      „Ja, die bin ich“ erwiderte Mara. „Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

      „Ich? Ich bin nur ein Soldat der Garde seiner Majestät, der die Ehre hat, Euch zur Königin zu geleiten.“

      Sie folgte dem hochgewachsenen Gardisten durch mehrere Korridore hindurch. Dann wartete sie, bis er sie bei der Königin gemeldet hatte, und trat schließlich ins Zimmer, das sich als ein kleiner, ummauerter Garten im Schutz einer der vier mächtigen, dicken runden Wehrtürme des Palastes herausstellte.

      Die Königin begrüßte Mara mit ausgesuchter Freundlichkeit. Sie war, wie Réa gesagt hatte, eine kluge und warmherzige Frau und ließ Mara Tee und Gebäck servieren. Eine Zeitlang unterhielten sie sich über das Wetter und andere