Vampire Blues 1. Thomas Barkhausen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Barkhausen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738075410
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verweilen. Er sah hinauf. Mondsichelnacht.

      Wer barg sich in deiner Schwärze, Mondkauz, alter Nachtzwerg? Wollte sie, die eine, kommen? Tauchen aus der Schwärze, gelb bezackt? War sie da? Die seine, die Besucherin? Er sah in den Nachthimmel. Sog kühle Nachtluft ein. - Ja. Ja, da war sie.

      Sie enttäuschte ihn nicht. Sie zog eine Bahn im Mondlicht, eine vollkommene Bahn. Du bist ein eitles Ding, dachte Archill, aber die Bahnen, die du ziehst sind makellos. Er langte in seine Jackentasche, holte eine Handvoll Samen heraus, tropfenförmige Körner, die an Tränen gemahnten, Tränen, aus denen Getreide wachsen würde, Halme, die Ähren tragen würden, und hielt sie vor sich hin.

      Und da war sie, stieß herab, die schwarze Taube, die Freundin, Tochter der Nacht, die Einzige mit pechschwarzem Gefieder. Bläue bei sich tragend, die das gezackte Mondlicht erblassen ließ. Alle anderen ihrer Art waren hell oder gefleckt. Nur sie nicht. Ein ins Gegenteil gewendeter Albino. Kein Positivabzug, nein, das Negativ eines Albinos. Sie zog eine letzte Bahn, flatterte heran, setzte sich auf die Willkommensbeuge, die er aus seinen Fingern gewölbt hatte, um sie zu empfangen, sah ihn nicht an und begann die Körner aus seiner Handfläche zu picken. Bedächtig, behutsam, langsam. Ein Korn nach dem anderen und immer nur eines zurzeit. Sie war eine Dame, sie wollte nicht gierig erscheinen. Sie neckte ihn mit dem Schnabel. Er sah ihr zu. Schwarzalbino, Mondnacht besonnt, wenn dich dein Bräutigam freit, wie werden eure Kinder aussehen?

      Mit der Fingerkuppe strich er über ihren Kopf, der war weich und warm und zerbrechlich. Sie ließ es sich gefallen, hob nur dann und wann den Schnabel, hielt inne, den Kopf majestätisch erhoben, so dass er wusste, dass sie ihm hiermit eine Gunst erwies. Sie drehte sich zu ihm hin, ein letztes Tränenkorn im Schnabel, nickte ihm zu, schluckte, gurrte, senkte den Kopf, hielt inne - und flog davon.

      Und wie jedes Mal war ihr Abschiedsblick eine Mischung aus würdevoller, dezenter, damenhafter Dankbarkeit und Verwunderung, ob dieses großen schwarzen Vogels ohne Gefieder und Schnabel und Flügel und Krallen, der er war und der ihr Futter bot aus seiner seltsamen, krallenlosen Hand. Archill sah ihr nach; sie schenkte ihm eine letzte makellose Ellipse, geschwungen vor dem Gelblicht des Mondes und entschwand in die Schwärze, die ihre Heimat war.

      VAMPIRE BLUES

      Archill schwindelt plötzlich. Nein, denkt er. Mondlichtscheiben sicheln durch sein Hirn wie Rotorblätter. Er schüttelt den Kopf, die Blätter sicheln. Blassgelb, herbstlich. Vorsichtig geht er in die Hocke, stützt sich mit der Rechten am feuchten Boden ab. Nun ist es da! Aus dem Schlummer erwacht. Kein Ausweg. Der ständige, der unabweisbare Begleiter, der unter der Oberfläche lauert, auf dem Sprung, die räudige Hyäne, die fern und kaum vernehmbar ein kehliges Bellen vernehmen lässt aus den entlegendsten Savannen seines Selbst, kauernd hinter dorrenden Dornsträuchern, die aufzuflammen begehrten. Rotwüste.

      Früher noch traf es ihn überraschend.

      Die Faust, die ihn packt, ihn ins Leere wirft, wo die Strudel mit ihm spielen, ihn hin- und herreißen wie einen kleinen blauen Spielball und die Wellenkronen kreischend über ihm zusammenschlagen. Es blitzt jene blendendweiße Weiße auf, schlägt ihm Gischtnadeln vor die Augen, treibt sie in ihn hinein, bis er nichts mehr ist… Nur noch ein Flimmern unter den Lidern: orange, geätzt auf die innere Leinwand der Lider.

      Nun schwebt er in einer anmutigen Schraube zwischen Fall und Fall, schwebt…

      Dann stürzt er, den Kopf zuunterst und über sich als Abgrund den Himmel. Stürzt in des Abgrunds Spiegel, spürt den Aufprall nicht, weil Schwärze und Schlaf wie Tod ihn zu sich nehmen …

      Archill ist gewappnet, erkennt die ersten Anzeichen. Er atmet tief, nestelt das Röhrchen aus der Jackentasche. Grinst, gestattet sich einen Anflug von Selbstmitleid, den er, noch bevor er ihn zu Ende gedacht, verlacht: „Elendes Krüppeltier!“

      Fünf Verse kommen ihm in den Sinn, die einer verfasst hatte vor nicht allzu langer Zeit, geschmiegt in die schützenden Arme der Schwester Melancholie. Der sich an ein Meer erinnerte, einen Schmerz, der sich eingenistet hatte. Das Auge brach, ob der Bilder, die die Welt unerbittlich in ihn hineinwarf … Fünf Verse von dem, der ins Licht ging, um darin zu ertrinken.

      Drei Fluten lang schon

      Laicht die Seewölfin in meinem linken Ohr,

      Wog mir ins rechte,

      Zieh mich aus

      Meiner Leiche.

      Fischige Retterin, du kommst doch nie, kannst es gar nicht. Tja, altes Mitleidsross, schweig! Es ist so, wie es ist. Taube Phrase! Er war, was er war. Ein Krüppeltier, einer der Entarteten, denen es versagt blieb, die Ewigkeit spendende Nahrung auf die seiner Art gemäße Weise zu sich zu nehmen. Einer, den der Biss anwiderte, das Blut, die Röte, das Metall auf der Zunge und das Zucken der Opferkreatur, die ihr Leben gab für das seine. Die Missgeburt aus edlem Hause, Erbe einer der beiden ersten Dynastien, Sohn des großen Arras. Ein Krüppel der Nacht, hilflos ohne das Röhrchen in seiner Tasche.

      Er ploppte den Verschluss des Röhrchens auf, schüttelte eine Portion des roten Pulvers in die Handfläche. Seine Finger zitterten, und er warf es sich in den Mund. Aus der Innentasche zog er das Etui mit den Phiolen - Geschenk seines Vaters zum volljährigen Geburtstag. Er hatte es ein wenig zweckentfremdet.

      Archill schlug die Phiole auf, klirrend rieselten kleine Splitter herab auf den Boden zu seinen Füßen, Glasstaub, Hoffnung bergend. Er stürzte den Inhalt herunter, spülte das Trockenpräparat mit dem guten alten Limes-Wodka herunter, auf dessen Etikett die Streifen der Flagge prangten. Irischer Wodka. Was für ein Witz!

      Er schüttelte sich, warf die Phiole in die Ruine, wo sie mit hellem Jungenstimmen-Klirren an einem gezackten Mauerstumpen zerschellte, und wartete auf die Wirkung. Er hockte immer noch am Boden. Der Nebel hatte ihn jetzt erreicht und leckte an seinen Knöcheln herauf, rosenzüngig.

      Erst wurde es schlimmer. Ein Sturm setzte ein, kleine sanfte Böen zuerst. Ein Rauschen zwischen tauben Schläfen, Blutrauschen, kobaltblau von rot durchzittert. Dann kleine weiße, gezackte Blitze hinter seinen nun geschlossenen Lidern vor der orangen Leinwand tanzend.

      Dann, dann war es vorbei.

      Archill sog die Nachtluft ein. Erhob sich. Er lächelte milde, wie die, die anders sind als all die Anderen ihrer Art, milde mit sich, milde mit dem Schicksal, in Demut, die sich mit Melancholie paarte und der selten Bitterkeit oder Zorn oder Sehnsucht oder Übermut wich.

      Archill wandte der Ruine den Rücken zu, machte aus ihr den Schattenmantel seiner Schultern, schlug bedächtig mit den Armen aus wie ein Tai-Chi-Tänzer, schlug heftiger aus, ein Schwimmer, der der Gischt entfliehen will, stieß sich ab, stieg, stieg, erhob sich über den Nebel mit kräftigen Schwüngen in die Nacht und schoss mit dem übermütigen Lachen eines Kindes durch das Hologramm einer virtuellen Eule, die genau in diesem Moment erbärmlich blinzelte und in ihre Lichtpartikel zerstob. (Was ihm eine weitere Ermahnung wegen Zerstörung „öffentlicher Lichtornamente“ eintragen würde, seinem Vater, dem Dynasten, nicht mehr denn ein müdes Lächeln abnötigen und dem Sekretär des Vaters einen nachsichtigen Seufzer entlocken würde, während er bereits den Scheck an das örtliche „Lichtamt“ an das, in gestochen scharfem Stil gehaltene, Entschuldigungsschreiben heftete und den zusätzlichen Scheck für „Pensionierte Lichtwerker“ in den Umschlag gleiten ließ.)

      Das Cape flatterte um seinen Körper, Archill entschwand als ein dunkler, immer kleiner werdender Punkt im Gegenlicht des Mondes, dessen Sichel an den Rändern franste wie ein Gedanke, der zu glühen sich entschlossen hatte.

      DAS GELBE MÄDCHEN

       Und sie schreibt ins dumme-dumme Tagebuch, mit dem gelben Deckel und auf Seiten, die knistern wie Papier in einem Feuer, das noch nicht angefacht worden ist:

      Vacant.

      I’m so pretty, you’re so pretty... vacant.

       Sie schreibt:

      Rhythmen