Tödliche Geschwister. Jo Caminos. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jo Caminos
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738076936
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ist immer dasselbe mit mir. Wenn ich einen Ausraster habe, verliere ich den Überblick. Verdammt, früher wäre mir so etwas nicht passiert. Das liegt alles nur an dir, du Arschloch. Ich wusste es, als ich dich vorm Kino sah. Von Anfang an, ich …“

      „Bleib locker. Denk an den Spaß, der auf uns wartet.“

      Sheilas Augen schienen Feuer zu sprühen. „Und wo? Wie soll es weitergehen?“

      „In einer der alten Geisterstädte. Wir fahren morgen bei Jean von der Interstate 15 runter nach Westen. Kurz vor Goodsprings biegen wir ab. Ich habe mich vor Monaten in der Gegend umgesehen, die ist ideal für uns. Niemand wird uns dort finden, zumindest nicht so schnell.“

      Sheila schürzte die Lippen. „Goodsprings, den Namen habe ich schon mal gehört. Was gibt es dort?“

      „Ist eine der alten Minenstädte in der Mojave: Silber, Kupfer, Zink - was weiß ich, was da sonst noch abgebaut wurde. Goodsprings war in den 40er Jahren mal in den Nachrichten, als das Schauspielerehepaar Clark Gable und Carole Lombard mit seinem Flugzeug abgestürzt ist. Den Pioneer Saloon in Goodsprings hatte man damals als Operationszentrum für die Suche nach den beiden eingerichtet …“ Eugene grinste breit. „Der Pioneer Saloon ist einer der ältesten Saloons in Nevada. Ich glaube über 100 Jahre alt. Er gilt als verflucht. Viele meinen, dass dort der Geist eines Erschossenen herumspukt …“

      Sheila verzog das Gesicht. „Geistergeschichten … - die sollten uns mal erleben! Oder eine von meinen angeblich frei erfundenen Storys lesen.“

      „Richtig.“

      „Aber nach Goodsprings fahren wir nicht?“

      „Nein. Das verlassene Kaff, das ich entdeckt habe, heißt Gunhill Shadows. Das sind streng genommen nur noch ein paar alte Bretterbuden, aber auf einer Anhöhe gibt es ein altes Haus, das noch ziemlich gut in Schuss ist. Von dort aus hat man eine hervorragende Aussicht auf die Mojave. Wir werden es früh genug mitgekommen, wenn die Bullen anrücken.“

      Er schenkte Sheila einen langen Blick. „Du spürst es doch auch, dass wir hier nicht mehr rauskommen, Sheila? Ich weiß es seit Wochen. Nein, seit Monaten. Aber wenn es enden muss, dann will ich mit Knalleffekt gehen. Und du doch auch … Wir wissen es beide, oder?“

      Sheila antwortete nicht sofort. War es das, was die letzten Wochen über an ihr genagt hatte? Die Erkenntnis, dass ihr Leben bald vorbei sein würde? Dass das Versteckspiel zu Ende war? Wenn sie ehrlich mit sich war, konnte sie die Frage nur bejahen. Vielleicht hatte sie deshalb auch wieder so viel gegessen. Es spielte alles keine Rolle mehr. Für einen Moment sah sie sich mit ihrem nächsten Opfer. Sie verspürte Wut, eine unglaubliche, alles verzehrende Wut in sich aufsteigen. Diesmal würde sie diese Wut endgültig in die Knie zwingen. Danach würde nichts mehr sein. Gar nichts.

      Sie schluckte. „Wann suchen wir die Opfer aus?“

      „Morgen, wenn ich aus Vegas zurück bin. Wir müssen uns noch mit Verpflegung eindecken. Auch für unsere … Kundschaft …“

      Sheila lächelte grimmig. Sie wusste genau, was mit Kundschaft gemeint war. Ja, sie hatte es eben wieder sehen können - in Eugenes Augen: dieses seltsame Flackern, das sie so oft in ihren eigenen Augen entdeckt hatte, wenn sie in den Spiegel sah - immer dann, wenn es wieder so weit war, wenn sie auf Beute aus war.

      „Und jetzt?“

      „Jetzt gehen wir auf unser Zimmer und später dann an einen der Pools. Der Wellness-Service hier ist gut. Und heute Abend können wir unser Glück ja in einem der Kasinos versuchen. Das Geld brauchen wir zwar nicht, aber darum geht es ja gar nicht. Es ist der Kick, nicht wahr? Den suchen wir. Die Welt gehört uns, Sheila … Wir werden diese Tage genießen, das verspreche ich dir.“

      10. Kapitel

      „Tobey? Was für eine Überraschung! Ich wollte gestern Abend mit dir skypen, aber du warst offline. Morgen Mittag finden die Castings für die neue Show statt, von der ich dir neulich erzählt habe. Kannst du um spätestens elf Uhr - besser um zehn - im Residio sein?“

      Tobey schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Im Residio, morgen Mittag … Alles entwickelte sich noch besser, als er angenommen hatte. Er hatte Charlene Connors in einem Online-Chat für Künstler kennengelernt. Das war vor ein paar Monaten gewesen. Die Chemie zwischen ihnen hatte von Anfang an gestimmt. Sie war keines dieser exaltierten Showgirls, die sich selbst für die Größte hielten. Ihre Begeisterung für seine Demoaufnahmen war echt gewesen. „Deine Stimme ist klasse, Tobey. Genau so etwas suchen wir für die neue Show. Aber du musst schnell sein, du weißt ja selbst, wie groß die Konkurrenz ist.“ Immer wieder musste er an ihren letzten Skype-Chat denken. Charlenes Reaktion war ehrlich, die Begeisterung nicht gespielt. Sie ist wirklich unglaublich süß.

      „Wo bist du eigentlich?“, fragte sie kurz darauf.

      Tobey runzelte die Stirn. Sollte er wirklich sagen, dass seine alte Karre den Geist aufgegeben hatte und er es gerade noch bis Primm geschafft hatte? Er hatte sich bei ihren Online-Dates nicht gerade als arm bezeichnet, was sich spätestens jetzt rächen könnte. Aber - was sollte er machen? Die Karre war in der Werkstatt, und nach der Reaktion des Mechanikers nach zu urteilen, sah es nicht gut aus. Der verfluchte Autohändler in L.A. hatte ihn also doch übers Ohr gehauen. Tobey war nicht wirklich überrascht, doch die Zeit hatte gedrängt. Er hatte unbedingt von L.A. weggewollt. Nun, für neunhundert Dollar konnte man wohl keine Luxuskarosse erwarten …

      „Du, Charlene, ich hänge hier in Primm fest. Meine Karre hat komische Geräusche gemacht, da bin ich vorsichtshalber im Experience Resort abgestiegen. Ich dachte, du könntest mich vielleicht abholen? Ginge das …? Ich kann mir natürlich auch ein Taxi holen, nur …“

      Für einen Moment herrschte Stille in der Leitung, dann lachte Charlene hell auf. „Ach, Tobey, du bist bestimmt genauso oft blank wie ich. Mach dir darüber keine Gedanken. Wir Künstler nagen doch alle am Hungertuch, es sei denn, man hat es endlich geschafft und ist etabliert. Meine Freundin Rizzie hat ein Engagement in Primm. Die letzte Vorstellung war gestern. Ich soll sie heute am frühen Abend abholen. Eher komme ich hier sowieso nicht weg. Du kannst mit uns zurückfahren. Wir haben bei uns in der Bude noch Platz, einer unser Mitmieter ist kurzfristig ausgezogen. Natürlich nur, wenn du es mit drei Weibern aushältst …“ Charlene kicherte.

      Tobey schickte das nächste Stoßgebet gen Himmel. Er hatte es gewusst, endlich war er auf der Gewinnerstraße. Und die Scheißkarre konnte von ihm aus in der Werkstatt verrecken. Am besten ließ er sich dort nicht mehr blicken. Sollten sie doch mit dem Rosthaufen glücklich werden. Er bezahlte bestimmt keine dreihundert Dollar oder mehr für die Reparatur, da hatte er weiß Gott bessere Verwendung für das Geld.

      „Du bist ein Schatz, Charlene, ein absoluter Goldschatz!“

      „Ich weiß, Tobey. Ach, ich freue mich ja so.“ Charlene machte eine kurze Pause. „Meinst du, wir könnten das Duett einstudieren.“ Sie sang ein paar Takte, und Tobey erkannte, welches Duett Charlene meinte.

      „Two lonely Lovers under a barren desert sky, das meinst du“, sagte er.

      „Ja …“ Charlene seufzte. „Das ist so herrlich traurig, ich liebe den Song, damit könnten wir - du - ganz groß rauskommen …“

      „Können wir machen!“, erwiderte Tobey schnell. Natürlich hatte er herausgehört, dass sich Charlene mit dem Song Chancen für sich selbst ausrechnete. Aber warum nicht? So egoistisch wollte er nicht sein, nicht so, wie die Geizkröte von seiner Mutter. Nein, Charlene half ihm - und er half ihr. Nur so konnte man in dieser Haifischbranche überleben.

      „Oh toll!“ Charlene überschlug sich fast vor Freude. „Stell dir das nur vor. Wir beide im Scheinwerferlicht, auf der großen Bühne - mit all den Menschen im Zuschauerraum. Oh Tobey, das wird wunderbar …“

      Tobey konnte durch die Leitung hören, dass jemand mit Charlene sprach.

      „Tobey, ich muss Schluss machen. Die nächste Probe steht an. Man braucht