Ich locke dich. Wolf L. Sinak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf L. Sinak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742758361
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stellte sich ordnungsgemäß vor, nannte Beruf, Titel, Name, die Stadt Gera und vernichtete sofort im Anschluss daran den steifen Charakter des Telefonats. „Ich bin auf der Suche nach einem Kommilitonen. Sie wissen ja, wie das ist – in alle Herrgottsrichtungen verstreut. Unser Studienjahr veranstaltet ein Treffen. Der Mann heißt Robert Bunsel und müsste meines Wissens bei Ihnen dienen.“

      „Zahnarzt war er nicht, Herr Kollege.“

      „Hat man ihn in die Küche gesteckt?“ Jens versuchte, ein Geräusch des Lachens zu produzieren, krächzte aber wie eine Sprechpuppe.

      „Feldwebel Bunsel diente bei mir in der medizinischen Abteilung bis vor drei Jahren.“

      „Oh, so lange ist das her. Und jetzt?“

      „Das weiß ich nicht. Ich bin auch nicht sicher, ob wir von derselben Person reden. Feldwebel Bunsel war Sanitätszeitsoldat, kein Zahnarzt, wie schon gesagt.“

      Jens bekam sein Herz zu spüren, das an den Rippen nach unten klackerte. Er musste das Gespräch weiterführen, zum Nachdenken war hinterher Zeit.

      „Na, so was, da bin ich platt. Vom Zahnarzt zum Soldaten. Vom Millionär zum Tellerwäscher. Umgekehrte Erfolgsstory. Hat er einem Zahnarzt assistiert?“

      „Wir sind hier eine kleine Abteilung, da kommen die Soldaten überall zum Einsatz, beim Arzt und beim Zahnarzt.“

      „Wenn Sie hier wären, würden Sie mein versteinertes Gesicht sehen. Es geht mir an die Nieren, dass einer wie Robert – beste Noten und so weiter – alles hinschmeißt und zum Bund geht.“

      Der Offizier räusperte sich. „Mir gefällt es hier sehr gut.“

      „Oh Verzeihung, ich wollte Sie nicht kränken. Dabei dürften Sie als Hochschulabsolvent meine Betroffenheit ermessen. Was wir gepaukt haben …“ Jens seufzte.

      „Also, Bunsel hatte seine Dienstzeit nicht beendet, als er gegangen ist.“

      „Das klingt nicht wie ein Hochgesang auf einen ehemaligen Kameraden“, sagte Jens.

      „Mehr will ich dazu nicht sagen. Das müssen Sie verstehen.“

      Jens zwickte der Gedanke, ihm die Notlüge vom angeblichen Kommilitonen zu gestehen; vielleicht war der Mann gesprächiger, wenn er verhindern konnte, dass Bunsel die Menschheit weiterhin schädigte, denn dass man ihn in Unehren entlassen hatte, war herausgetönt wie eine Trompete. Und was in Jens’ tiefstem Inneren bereits Gewissheit war, aber für den Offizier neu sein durfte: Bunsel war ein Hochstapler. Jens schluckte. Er hatte Bunsels vorgeblicher Approbationsurkunde nur einen flüchtigen Blick geschenkt und ihn unbehelligt arbeiten lassen und damit einem Kriminellen Tür und Tor geöffnet. Und der Hurensohn hatte es geschafft, ihn in seine Machenschaften hineinzuziehen.

      „Das verstehe ich, Herr Kollege. Vielen Dank“, sagte Jens und beendete das Gespräch. Er glaubte sich wieder unter dem Gewicht begraben, das aus Herzen Eierkuchen macht.

      Dann klingelte es. Jens drückte den Öffner der Haustür und wartete am Türspion. Werner kam getarnt im Arbeitsanzug. Jens zog ihn in die Wohnung. „Hier, sieh dich um, aber pass auf, wo du hintrittst, es klebt.“

      Vorsichtig und mit großen Schritten ging Werner von Zimmer zu Zimmer, während Jens ihm nachlief wie ein Kind seinem Vater, das sich vor dem Ungewissen fürchtet.

      „Bunsel ist ein Hochstapler, kein Zahnarzt. Beim Bund hat er einem Zahnarzt lediglich was abgeguckt und es bei mir in der Praxis ausprobiert.“

      „Echt? Aber dafür kannst du nichts.“

      „Wenn rauskommt, dass ich vergessen habe, mir die Approbationsurkunde zu kopieren, die natürlich eine Fälschung war, bin ich erledigt.“

      Werner blies die Wangen auf, als schüfe das Denkvolumen. „Verglichen mit dem, was die Ganoven mit dir anstellen, scheint mir eine Strafe wegen Verstoßes gegen eure zahnärztliche Berufsordnung nicht mehr als eine Ohrfeige zu sein.“

      „Pah! Von einem gravierenden Kunstfehler, den Bunsel bereits begangen hat, weiß ich schon. Die Patientin liegt im Krankenhaus.“

      Werner entließ die Luft aus den denkenden Wangen und Jens zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und sagte: „Fahre mich bitte zu Marlies.“

      „Was?“

      „Ich lasse die Wohnung erst mal, wie sie ist, auch die Marmelade.“ Jens zeigte auf einen kleinen braunen Klumpen in der Mitte des Raumes. Werner ging hin und bückte sich. Erst kniff er die Augen zusammen, dann schraubte er sie eine Umdrehung heraus.

      „Marmelade? Das ist Erde oder Lehm. Du hast mir doch erzählt, dass die gestern nicht nur im Studio waren, sondern auch im Gelände an der Elster. Die haben ihre Schuhe nicht geputzt, was sonst?“ Werner schaute perplex. „Du solltest deine Sorgen mal ordnen. Das hier steht ganz hinten an, oder nicht?“

      Die Unterhaltung steuerte in einen Bereich, in dem Werner mit seiner dicken Haut nicht mitreden konnte. Jens sah das seinem Freund nach, wie er es mit jedem Gesunden tat, der die Wehwehchen eines anderen niemals in vollem Ausmaß verinnerlichen konnte. Er bückte sich zu Werner, nahm ihm den Brocken Lehm aus der Hand und ließ ihn zwischen den Fingern zerbröseln, woraufhin seine Gänsehaut die Stacheln einfuhr und die Luken schloss.

      Der Barkas, der kurz vor dem Aufplatzen seiner rostigen Pockennarben stand, war hinten offen. Von dort stieg Jens in den Laderaum und legte sich auf den Boden. Durchgeschüttelt von teils desolaten Straßen, kostete es viel Kraft, sich festzuhalten. Werner bewachte visuell sämtliche Rückspiegel wie einen Goldschatz und ließ die Schlaglöcher außer Acht.

      „Kannst du später meinen Wagen holen?“, fragte Jens. „Er steht in der Wiesestraße. Das muss blitzschnell gehen. Du näherst dich ihm, schließt fix auf und weg bist du. Höchstens, dass man hinter dir herfährt. Aber jemandem, der ein so eingefleischter Geraer ist wie du, sollte es ein Leichtes sein, ortsunkundige Wessis abzuschütteln.“

      „Das sind Wessis? Einer ist doch Ausländer, hast du gesagt.“

      „Ja, aber der andere nicht. Der fuchtelt mit seiner Kanone herum, als gehörte ihm der Osten.“ Jens hatte den Trumpf gezogen. Werner war leicht zu ködern, wenn man ihm huldigte, sogar wenn das vor Ironie strotzte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du als Vorzeigeossi durchgehen lässt, was die hier veranstalten. Noch dazu mit deinem besten Freund.“

      Schweigen. Jens erahnte, wie bei Werner dunkle Wolken im Osten aufstiegen und gen Westen zogen und er sich überlegte, wie man der Brut Herr werden könnte.

      Eine Serie von Schlägen auf der Bodenplatte zwang Jens, die Finger in die Streben der Sitzbank zu krallen. Sie waren in die Plauensche Straße eingebogen und hoppelten über jahrzehntealtes Kopfsteinpflaster.

      „Dass Bunsel auch ein Wessi ist, weißt du ja schon.“

      „So etwas vergesse ich nicht. Ich habe noch keinen von denen zu Gesicht bekommen, weder Bunsel noch diese Halsabschneider, aber glaube mir, ich werde riechen, wenn sie kommen und Wessis sind.“

      Zum ersten Mal empfand Jens die Kleinkariertheit seines Freundes als Glück. Es war legitim, ihn vor den Karren zu spannen. Freundschaft lebte davon. Eine Art Symbiose. Gleichwohl hoffte er inständig, dass Werner den blonden Rauschgifthai nie zu Gesicht bekommen und, weit wichtiger, ihn nie sprechen hören würde, weil sein Dialekt dem Durchziehen von Worten durch eine thüringische Wurstmaschine nahestand. Bunsel hingegen ging wegen seines Dialekts als Wessi durch.

      Der Barkas hielt vor einem renovierten Haus. Jens folgte der Anweisung auf dem Schild der Steuerkanzlei, ins erste Stockwerk zu gehen. Er fragte nach Marlies Kiel und eine ältere Frau mit schwarzer Brille machte sich auf den Weg. Marlies erschien langärmelig gekleidet und mit auffällig ins Gesicht gekämmten Haaren. Jens zog sie zu sich ins Treppenhaus und wartete, bis die Kollegin mit einem Gesichtsausdruck faustdicker Phantasie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

      „Überraschung, was?“, sagte Jens.

      „Wohl kaum. Ich rechne jederzeit