Ich locke dich. Wolf L. Sinak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf L. Sinak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742758361
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er doch tatsächlich Steffi und Anna vor einem Geschäft. Mutter und Tochter sprachen miteinander, drückten sich und gingen auseinander. Steffi verschwand in dem Geschäft für Künstlerbedarf. Jens fiel nichts Besseres ein, als Anna unter Wahrung einer reichlichen Distanz nachzugehen. An der Straßenbahnhaltestelle stadtauswärts blieb sie stehen. Die Bahn kam, sie stieg vorn ein, Jens hinten. Als chronischer Autofahrer brauchte er gar nicht erst in seinen Taschen zu suchen – fahrscheinfreie Zone. Von Anna sah er nur die Hinteransicht. Zum Glück träumte sie seitlich zum Fenster hinaus. Widerlich, dass die Gedanken hinter ihren schönen Augen womöglich gerade Bunsel nachhingen. Es war zweifellos ein Abenteuer für eine Sechzehnjährige, als brächte sie einem Verfolgten Wasser und Brot.

      Die Bahn hielt, fuhr weiter, und hinter ihm setzte sich eine Stimme vom allgemeinen Gemurmel ab. Ein Finger tippte auf Jens’ Schulter.

      „Ihren Fahrtausweis bitte.“

      Über ihm hing das leidenschaftslose Gesicht eines Beamten.

      „Was bin ich Ihnen schuldig?“ Jens fragte im Fokus des verstummenden Gemurmels. „Ich hatte nicht die Zeit, mir einen Schein zu besorgen. Soll nicht wieder vorkommen.“

      „Was glauben Sie, muss ich mir täglich anhören, weshalb und warum? Erzählen Sie das Ihrer Frau, wenn sie Kasse macht und vierzig Euro fehlen, denn so viel kostet es, den Fahrkartenautomaten zu ignorieren.“

      Jens schaute zu Anna. Sie döste gedanklich eher in einem Raumschiff als in einer Straßenbahn. Der Beamte nahm die Personalien entgegen, und Jens musste an der nächsten Haltestelle die Bahn verlassen, wobei Anna aufmerksam wurde. Auf der Straße hob er die Hand zu einem lauen Gruß. Die Bahn fuhr an, ihr Kopf hinter der Scheibe drehte sich ihm nach wie eine Kompassnadel.

      Jens hatte Glück. Bald kam ein Taxi und hielt auf seinen Fingerzeig.

      „Holen Sie die Straßenbahn ein“, sagte er dem Fahrer, der keine Straßenbahn mehr sehen konnte. Unterwegs hielt er Ausschau nach Anna, die ausgestiegen sein konnte. Der Fahrer begann, Späße zu machen. „Das ist bestimmt nicht Ihre Schwiegermutter, die in der Bahn sitzt.“

      Die Straßenbahn kam in Sicht, aber Jens entdeckte Anna auf dem Gehweg mit flinken Schritten. Er beeilte sich, das Taxi zu bezahlen und hielt Anschluss. Im Stadtteil Roschütz wollte er gerade umkehren, sich der sinnlosen Gefahr entziehen, durch einen raschen Rückwärtsblick von Anna entdeckt zu werden, da bog sie in einen Weg ein, der auf eine Anhöhe führte, hin zu einer Baumgruppe. Er wartete, bis sie hinter den Bäumen verschwunden war, und rannte hinauf. Oben, im Schutz eines Stammes, sah er Anna bergab laufen, dann neben einem Feld entlang bis zu einem Haus, das einsam am Weg stand. Anna hielt am Tor und holte etwas aus ihrer Handtasche. Ein großer Hund kam schwanzwedelnd und schnappte das Leckerli aus ihrer Hand. Hier war sie eine alte Bekannte, dachte Jens, und das Haus war keine Herberge, in der Bunsel abgestiegen sein konnte. Kein Schild, das dafür warb. Und vom Verputz war nicht mehr viel übrig. Auf dem Rückweg durch Röschütz begegnete er einer alten Frau mit Mülleimer.

      „Wissen Sie, ob in dem einsamen Haus hinter dem Hügel Zimmer vermietet werden? Die Lage ist idyllisch.“

      Die Frau versetzte ihr Gesicht in Verblüffung. Es bestand hauptsächlich aus ein paar großen Zähnen, die untereinander von schwarzen Lücken auf Distanz gehalten wurden. „Kann ich mir nicht vorstellen, junger Mann. Der Besitzer empfängt zwar oft Besuch. Spirituosen … äh, Spiritismus oder so. Aber dort schlafen? Da fehlt ne Frau, um sauber zu machen, wenn Sie wissen, was ich meine.“

      Jens bedankte sich und ging weiter. Der Fahrkartenautomat lieferte ihm die Legitimation, zurück in die Stadt zu fahren. Durch das Schaukeln des Wagens versank er in Schläfrigkeit. Er dachte an die Wohltat der Dusche gestern Abend, an das jungfräuliche Gefühl, als die Poren seiner Haut gespült wurden und der störrische Kleister in den Abfluss gluckerte. Nein, es gab keine Reste mehr, die irgendwo überdauert haben konnten, er hatte sich ausgiebig gereinigt, auch wenn ein unbestimmtes Jucken behauptete, nicht frei von Fremdkörpern zu sein. Jens kannte diese Vorstellung, sie kam und ging wie Röte im Gesicht, sein Leben lang. Sie hieß Einbildung, und er glaubte jedes Mal an eine Tatsache, wenn sie sich einschlich.

      Er stieg aus und ging in die Burgstraße zu seinem Wagen. Er ließ sich in den Ledersitz fallen und schloss schmunzelnd die Augen. Anna besaß also ein Faible für Okkultismus und praktizierte diesen auch. Dass ihre Mutter eingeweiht war, bezweifelte Jens. Bestimmt schämte sich Anna für ihr Hobby, wer konnte ihr das verübeln. Aber so angenehm dieser Bunsel ausklammernde Gedanke auch war, eine andere Vorstellung zog Jens in die Gegenrichtung: Imaginäre Stahlwolle, mit der man Holz schleifen konnte, breitete sich auf ihm aus. Nackenhaare spießten in die Kopfstütze und der Schweiß auf seiner Stirn perlte wie auf Autolack.

      Er setzte einen Schrei ab. Wenn es so war, dass ihm die Hoheit über seine Gedanken abhandenkam und sie als selbständige Gebilde in seinem Schädel waberten – Beiwerk seiner beschissenen Haut –, dann war die putzige Manie seiner Kindheit mit ihm gewachsen und zur Idiotie ausgereift. Es handelte sich nicht mehr um einen Lapsus, über den man schmunzeln konnte, und bedurfte eines verdammt kurzen Schrittes, nicht mehr allein damit fertig zu werden. Zumindest konnte er sich vorstellen, beim einem Psychiater eine Schocktherapie durchzumachen, wie Leute, die Angst vor Spinnen haben und eine auf die Hand gesetzt bekommen. Lieber würde Jens fünfzig Spinnen in seinem Gesicht krabbeln lassen, als von einem Psychiater in Wollkleidung gesteckt und mit Marmelade beschmiert zu werden.

      Gegen vierzehn Uhr parkte er ein gutes Stück weit entfernt von seiner Wohnung und hielt nach Verfolgern Ausschau. Seine Vision basierte auf einer übergroßen Pinnwand aus samtweicher Haut, die bereitstand, den Rest aller Grausamkeiten angeheftet zu bekommen. Und hierfür bot der Alltag viel. Reißnägel zum Beispiel oder Glasscherben. Abrupt rissen diese Gedanken ab, als er in den Flur seiner Wohnung trat, den Schauplatz einer Verwüstung. Die Flurgarderobe streckte ihre Türen zu Flügeln aus, als segnete sie den davorliegenden Haufen Schuhe und das Putzzeug oder als hätte sie sich mit diesem Kram übergeben.

      „Hallo, ist jemand hier?“

      Seine Stimme klang stranguliert, als würde sie im Schlund nicht vorbeigelassen. Er stieg über den Haufen und linste ins Schlafzimmer. Der Schrank stand nicht nur offen, sondern war von der Wand gerückt. Das Bett eine Katastrophe: zwei sich überkreuzende Schnitte in jeder Matratze.

      Er trat in etwas hinein. Getrocknete Waldfruchtmarmelade. Angewidert sah er sich um und nahm weitere Kleckse wahr. Jurek hatte ganze Arbeit geleistet. Er beeilte sich, auf einem Bein hüpfend, aus dem Schlafzimmer ins Bad zu kommen, wo er das ekelhafte Zeug von der Sohle wusch. In den anderen Zimmern das Gleiche. Was nicht fest mit einer Unterlage verbunden war, lag woanders. Papiere aus den Schubladen wie zum Abdecken des Bodens bei einer Malerarbeit.

      Er schnappte sich die Jacke, in der alles war, was er brauchte, Telefonnummern, Handy, Geld, Kreditkarte, und rief Werner an. Beim Klingelzeichen sah er Glanzspuren am Türgriff, den er angefasst hatte. Sofort verspürte er klebrige Fäden zwischen seinen Fingern. Er schaute sie an. Da war nichts. Aber es klebte unbändig. Werners sonore Stimme meldete sich und Jens berichtete von den Verwüstungen.

      „Hol mich ab!“

      Das war ein Schrei der Verzweiflung und eine schneidende Erinnerung, dass sein Geld in Werners Laden steckte. „Nimm den Lieferwagen deines Vaters und fahre rückwärts in die Einfahrt. Die werden dich für einen Handwerker halten und nicht sehen, wenn ich hinten einsteige.“

      Werner legte auf, ohne viel gesagt zu haben. Sein Vater Max, dem man drei Bypässe ums Herz gelegt hatte, ließ diese derzeit bei einem Reha-Aufenthalt in Bad Berka anwachsen. Max’ ebenfalls ans Herz gewachsener DDR-Lieferwagen vom Typ Barkas stand vor seinem Haus. Es war ein Liebhaberstück mit Zweitaktmotor und viel Rost. Aber bevor Werner eintraf, hatte Jens noch etwas zu erledigen. Er nahm das Telefon und wählte. Eine Männerstimme meldete sich:

      „Zentrale Vermittlung der Bundeswehr.“

      Jens verlangte den Standortarzt und musste eine Weile warten, während er das Klappern einer mechanischen Schreibmaschine hörte. Kaum zu glauben, die hatten keine Computer. Dann meldete sich eine Frau und vermittelte an eine Außenstelle weiter. Jens stellte sich die Arbeitsweise