Ich locke dich. Wolf L. Sinak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf L. Sinak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742758361
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oder wenn der Scheidungsanwalt die Fälle am Fließband abwickelte.

      Jens gab Herrn Leibel die Hand, sie nahmen Platz. Der Anwalt war schlank und trug auf dem Kopf eine Fälschung. Solche Haare, dicht und gleichmäßig wie aus der Nudelmaschine, gehörten zur ersten Generation von Toupets. Wenn Herr Anwalt schon im Kleinen hochstapelte, dann sollten die Alarmglocken erst recht im Großen läuten, zum Beispiel bei einer Scheidung.

      „Ihre Frau hat mir von Ihrem Urlaub erzählt. Muss wohl Wetter zum Anbeißen gewesen sein in Südtirol, Ihrer Bräune nach zu urteilen, Herr Doktor Klemmer.“

      Jens presste die Zähne aufeinander. Die Umschreibung seines Sonnenbrandes war Spott. Er strafte dieses Arschloch ab, indem er lange auf seine Armbanduhr sah und nicht antwortete.

      „Ich sehe schon, Doktor Klemmer, Ihre Zeit ist knapp. Lassen Sie mich zum Thema kommen. Der Gesetzgeber macht es uns leicht, Ihren Fall im Hinblick auf Vermögensausgleich abzuhandeln. Sie haben keinen Ehevertrag abgeschlossen, leben also im Güterstand der Zugewinngemeinschaft, was bedeutet, dass mit dem Scheidungstag der während der Ehe erzielte Vermögenszuwachs ausgeglichen werden muss …“

      „Entschuldigung“, rief Jens dazwischen, „ich möchte Sie bitten, die niedrige Auffassungsgabe eines Zahnarztes bezüglich der juristischen Sprache zu berücksichtigen. Einem Patienten würde ich auch nicht mit einer Parodontitis marginalis kommen, sondern ihm sagen, dass er eine Zahnfleischtasche hat.“

      Sein Oberschenkel erhielt einen Stoß von Renates linkem Knie, dessen spitze Anatomie er noch deutlich in Erinnerung hatte.

      „Entschuldigung.“ Leibel mit dem scharfen Haaransatz der ersten Generation von Haarfälschungen rutschte kurz auf seinem Sessel hin und her und fuhr fort:

      „Ich meine damit, dass zum Beispiel neben Kapitalanlagen der Verkehrswert der Praxis mit einfließt, also der Erlös, den sie bei Verkauf erbringen würde. Um es klar zu sagen: Ihrer Frau stünde fast die Hälfte vom Erlös zu. Diesen Betrag müssten Sie an ihre Frau auszahlen, wenn Sie nicht auf das Angebot eingingen, sie weiter zu beschäftigen und am Umsatz zu beteiligen.“

      Jens stand auf. „Was haben Sie beide noch ausgeheckt?“

      Renate bekam einen roten Kopf.

      „Ich würde es nicht als Aushecken bezeichnen, sondern als einen Vertrag, den ich vorbereitet habe“, sagte die Haarfälschung betont langsam mit dem Gehabe eines gekränkten Vaters, der seinem Kind Anstand beibringen will. „Er beinhaltet das Angebot, Ihrer beider Zukunft zu sichern. Es dürfte für Sie eine besondere Härte bedeuten, eine derart große Summe aufzubringen, ohne die Praxis zu veräußern.“

      „Trotzdem, ich unterschreibe nichts.“ Jens setzte sich wieder und wurde von Renate mit einem lebensgefährlichen Blick bestraft. Leibel machte weiter.

      „Noch nicht erwähnt habe ich den nachehelichen Ehegattenunterhalt. Auch wenn Sie eine Stundung des Ausgleichsanspruchs erwirken, bezahlen Sie Ihrer Frau den gewohnten Lebensstandard weiterhin.“ Er lehnte sich zurück und zog mit beiden Händen seine Fliege gerade, als sei er einer der Autoren gewesen, die dieses Gesetz geschrieben hatten. In Renates Gesicht las Jens die Genugtuung, den richtigen Anwalt beauftragt zu haben. Dass er einer der teuersten war, brauchte sie nicht zu jucken. Der Gesetzgeber zeigte ihr den Weg, woher am Ende das Geld für die Rechnung kam. Sie brauchte ja nicht einmal ihren Lebensstil zu ändern. Jens dachte an den Anfang, als Renate noch Bedienung in der Erfurter Studentenkneipe war. Heute trugen ihre Einkaufstüten die Logos bekannter Marken.

      „Werden deine Klamotten geschätzt und zusammen mit den Eintrittspreisen für Kino und Diskotheken mitgerechnet, in die du deine Freundinnen vom Tennisclub geschleppt hast? Wie steht es um die Verschwendung während der Ehe?“

      „Albern wie immer, was?“ Renates Ton war härter geworden. „Du hast dir deine Lage selbst eingebrockt. Nicht mal jetzt lässt du das Spotten, nachdem du mich zum Gespött der Leute gemacht hast. Du bist nicht fähig, dich in die Lage zu versetzten, wie einem zumute ist, seinen Ehemann keuchend und verschachtelt in einem fremden weiblichen Körper zu sehen.“ Ihre Augen wurden glänzend – Vorboten, wenn sie die Contenance verlor.

      „Das mag alles stimmen, nur glaube ich nicht, dass dein Anwalt an Einzelheiten unseres Konflikts interessiert ist.“

      Leibel nickte gezwungen.

      „Ha, da verkennst du die Lage“, fuhr Renate ihn an. In Jens’ Empfinden blitzten messerscharfe Fangzähne hinter ihren bemalten Lippen auf, als sie ausholte: „Eine Scheidung strotzt vor Einzelheiten. Die Richter stürzen sich darauf, je schmutziger, desto besser.“

      „Dann sind Sie ja im Bilde“, sagte Jens zu Leibel, über dessen Wangen ein roter Schatten huschte. Aber der Anwalt ging nicht darauf ein, sondern unterbrach Renate, die mit grünem Gift in der Stimme keifte und Jens’ ignorantes Wesen als unerträgliche Absonderlichkeit bezeichnete, von der sie für alle Zeiten die Schnauze voll hätte.

      „Meine Dame, mein Herr, erlauben Sie mir, die Moderation zu übernehmen, sonst befürchte ich, dass gleich einer von Ihnen hier abhaut. Sie sollten sich beruhigen und die Chance nutzen, die dieser Ort bietet.“

      „Na und, meine Lage ändert das nicht ab.“ Jens umfasste die Armlehnen zum Aufstehen.

      „Ein Eklat hilft niemandem weiter.“ Leibel rollte die Augen. „Bitte!“

      Renate hatte den Kopf zum Fenster gedreht, als schien sie die Straßengeräusche hinter dem Fenster interessanter zu finden. Jens ließ die Lehne los und verschränkte die Arme vor der Brust zur letzten Chance für diesen Nervtöter von Anwalt.

      „Es geht um das Scheidungsjahr“, fuhr Leibel fort.

      Jens hörte sich an, was Leibel unter einer wasserdichten vertraglichen Absicherung verstand. Der warf sich so ins Zeug, als stünde als Nächstes an, Jens den Vertrag auf die Brust zu tätowieren. In dem bevorstehenden Scheidungsjahr gedachte Renate nicht in der Luft zu hängen. Bereits jetzt, da noch kein Scheidungsrichter etwas von ihnen wusste, sollte unter Dach und Fach gebracht werden, dass sie wieder an der Rezeption arbeitete und am Umsatz beteiligt wurde. Irgendein nachhaltiger Knacks hatte ihre Weichen auf Karriere gestellt.

      „Ich lasse das alles prüfen.“ Jens nahm sich den Vertrag vom Tisch und knietschte ihn in seine Brusttasche, stand auf und nickte in die Runde der Hyänen. Renate, die vor jeder Instanz auszurasten imstande war, stach mit den Augen nach ihm.

      „Hol dir doch Hilfe bei deiner Schlampe, die deinen Kopf sich einverleibt hat. Die hat Tiefe. Aber besprecht euch vorher, nachher bist du taub auf den Ohren. Oder du bringst ihr bei, dass man die Beine weit genug spreizt, wenn Onkel Doktor mal nachsehen will, auch wenn es sich nur um den Zahnarzt handelt.“

      Jens sprach Leibel an, der leer zu Boden blickte. „Kommen Ihnen nicht manchmal Gewissensbisse, wen Sie vertreten?“

      „Bei Schweinen wie dir ist das bestimmt der Fall“, plärrte Renate. „Wir werden ohne Gewissensbisse dafür sorgen, dass ich die Hälfte der Praxis bekomme, als Partner … oder als Verkäufer.“

      Jens ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Leibel stand auf. „Doktor Klemmer, Ihre Existenz steht auf dem Spiel. Die finanzielle Zukunft Ihrer Frau nicht.“

      Jens ging weiter, bis er auf der Sorge ankam, der Geschäftsstraße, die ihre Kundschaft zunehmend an die großen Einkaufszentren verlor. Er sah das normale Leben. Menschen, die in Läden verschwanden und wieder auftauchten, sorglos, als sei jeder Tag wie der andere. Nie zuvor war ihm diese Normalität so konkret erschienen, mit festen Konturen und glänzend wie Gold.

      Er musste Bunsel finden. Sein Heer bestand aus Werner, Marlies und ihm. Der Plan: das systematische Abklappern aller Unterkünfte in Gera und Umgebung. Zu dritt sollten sie das in ein paar Stunden bewerkstelligt haben.

      Jens schaute in Richtung Ziegelberg, wo Steffi und Anna wohnten. Es sprach nichts dagegen, seine Auszubildende in häuslicher Atmosphäre zu befragen. Er stellte sie sich mit einem Plüschhasen vor und sich selbst mit einer Tüte Bonbons. In der Tat wäre es fahrlässig, Annas Mucke nicht noch einmal gegen das Licht zu halten