Ich locke dich. Wolf L. Sinak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf L. Sinak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742758361
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Überall konnten die nicht sein. Realitätssinn war da ein besserer Partner. Und sein dermatologisch geschändeter Rücken war ein Stück dieser Realität.

      „Könntest du die Vorkommnisse für dich behalten, ohne die kleinste Ausnahme? Es wäre sehr wichtig für mich.“

      Sie starrte auf das fast leere Glas Honig, das auf dem Tresen stand wie ein Corpus Delicti und noch nicht dem Mülleimer übergeben worden war. Das Schwein vorhin hatte seinen Finger in den Honig getaucht und ihn ungenießbar gemacht.

      „Fürs Erste ja. Mehr kann ich nicht versprechen. Ich muss über alles nachdenken. Niemandem etwas zu sagen ist viel, was du verlangst.“ Jetzt schaute sie ihn an, als wäre eine Gegenleistung das Mindeste. „Wie dachtest du, soll es weitergehen?“

      Auf die Frage hatte er gewartet. Er erinnerte sich der Wärme ihrer Schenkel. Ein trainierter, fettarmer Körper, dargeboten mit einer jungenhaft netten Art. Da spielte ihr mittelmäßiges Aussehen eine verdammt untergeordnete Rolle. Er hingegen rangierte in jener Altersklasse, in der man für vergleichbare Angebote Geld hinblättern musste.

      „Uns beide trennen siebzehn Jahre, Marlies. Ich bin nicht sicher, ob du in zwanzig Jahren einen alten Esel wie mich nicht lieber im Tierheim abgeben würdest.“

      Marlies schaute genervt gen Decke. „Ich meine nicht unsere Beziehung … Dieses Thema ein andermal. Meine Stimmung ist am Boden. Was ich durch das Fenster gesehen habe, machte nicht den Eindruck eines harmlosen Streiches alter Sportsfreunde. Vom Alter her hat der blonde Mann im Kindergarten geturnt, als du auf der Sportschule warst.“

      Jens nickte, was sollte er sonst tun? Zum Glück klingelte das Telefon auf dem Tresen neben Marlies.

      „Ach du, Werner. Hier ist Marlies … Wieso, so ungewöhnlich spät ist es nicht …“ Sie gab Jens den Hörer.

      Jens hörte Werners kichernde Stimme, noch bevor er sie direkt am Ohr hatte. „Das nennt man hundertprozentige Nutzung der Gelegenheit“, sagte Werner. „Habt ihr wenigstens sauber gemacht. Frühmorgens begleiten oft Kinder ihre trainierenden Mütter. Ich will nicht, dass die was finden.“ Jens sah im Geist Werners Zähne und die zurückgeschlagenen Lippen, die ein Pferd nachahmten, das einen Lachkrampf erleidet. „Ich habe mir Sorgen gemacht“, fuhr Werner fort, „weil du nicht an den Apparat gegangen bist. Hättest ja sagen können, dass du Marlies dabehalten hast.“

      „Du phantasierst mal wieder. Gibt’s was Neues?“

      „Alles ruhig, Bunsel scheint woanders zu pennen. Los, sag schon, habt ihre die Kopf-Nummer fortgesetzt? Du weißt schon, die sauerstoffarme Stellung, in der Renate euch erwischt hat …“

      Jens grinste Marlies steif was vor. „Ich lasse jetzt Marlies mithören, sonst denkt sie, wir hätten Heimlichkeiten.“ Er drückte die Lautsprechertaste, worauf im Raum nur noch das letzte Wort von Werners Satz zu hören war. „… Spielverderber“.

      Nicht schlecht, dachte Jens. Marlies könnte das Wort auf den angeblichen Streich von der Sportschule beziehen. Aber sie war offenbar nicht in der Stimmung für eine Konversation mit Werner und drückte die Lautsprechertaste wieder aus. Tränen liefen über ihre Wangen, wo sich frische rote Kratzspuren kreuzten. Ihre Haare waren zerzaust und in ihrem Inneren steckte Angst mit einem langen Verfallsdatum. Er nahm sie in die Arme und drückte ihren Kopf an seine Schulter. Mehr nicht. Mehr durfte er nicht tun. Krächzende Laute wie aus einem alten Grammophon drangen aus dem Telefon.

      Er drückte die Aus-Taste.

      9

      In dieser Nacht quälte Jens ein sich wiederholender Traum. Er wähnte sich mitten im schmalen Gang des Fitnessstudios, dessen hinterer Teil von einem Schaufelradbagger mit tonnenschweren Zähnen versperrt wurde, die seinen Rücken bedrohten. Marlies überlebensgroßer Schoß belagerte das andere Ende des Ganges. Einen Ausweg gab es nicht. Überschneidend erschien Werner mit eigenständig lachenden Zähnen. In der letzten Traumschleife schlug Jens die Arme vors Gesicht und rannte mit dem Schädel gegen die Wand, Schmerz ertönte wie ein Trompetenstoß …

      Er öffnete die Augen und erkannte, dass er mit einem Mansardendach kollidiert war, im Bett sitzend, neben sich die verwurstelte Bettdecke. Etappenweise kam die Erinnerung, dass er sich gestern Abend noch mit Werner getroffen und sich ein Zimmer in Möllers Frühstückspension genommen hatte, weil er nicht in seiner Wohnung schlafen wollte. Die Fakten: Er war übel zugerichtet, Bunsel war nicht aufgetaucht und Werner war not amused .

      Vollreifes Licht von jenseits neun Uhr drang durchs Fenster. Er sprang aus dem Bett, ungeachtet des Schmerzes im gequetschten Brustkorb. In die Praxis konnte er nicht fahren. Er könnte schon, aber wenn er sie wieder verließ, hätte er aller Wahrscheinlichkeit nach eine Eskorte am Hals, bestehend aus einem Mercedes mit streichholzkauendem Fahrer und bulligem Beifahrer und, wer weiß, brandneuem Equipment im Kofferraum. Neben Wolldecken standen Kokosmatten hoch im Kurs bei Amychophobie – der Phobie auf Kratzendes.

      Es war fast zehn Uhr, als er Möllers Frühstückspension verließ und zu seinem Wagen ging. Im Gehen rief er Frau Eisentraut an und ließ sich die Adresse von Kreihansel durchsagen.

      Plötzlich, mit einem Schlag, krallte sich etwas in seinen Nacken. Er drehte sich um und sah eine Menge Make-up im Gesicht von Renate. Mann, nun hat es auch sie erwischt, so wie andere Frauen, die nach der Scheidung herumliefen wie Paradiesvögel.

      „Mein lieber Jens, glaubst du, den Richter zu gewinnen, wenn er spitzkriegt, dass du sogar Pensionen benützt, um unserem Scheidungskram aus dem Weg zu gehen?“

      „Woher weißt du, dass ich hier bin?“

      „Zufall. Habe dein Auto gesehen.“

      Er wusste, dass Frau Eisentraut ihn nicht verraten haben konnte, da er ihr nichts von seinem Aufenthaltsort erzählt hatte. Trotzdem sah er sie in seiner Vorstellung über die Telefonstrippe mit Renate verbunden, erst felsenfest und dann weich wie Gummi, als Renate sich als alte und neue Kollegin präsentierte. Mit jener Kälte und Klarheit, die in einem Eisblock stecken.

      „Herr Leibel, mein Anwalt, hat heute Vormittag keine weiteren Termine und wartet in der Kanzlei auf uns.“ Dabei strahlte sie, was nichts Gutes bedeuten konnte.

      „Unmöglich, jetzt nicht. Auf keinen Fall. Sag mal, hast du zufällig was von diesem Bunsel gehört, den du mir schmackhaft gemacht hast? Ich habe vergessen, mir seine Handynummer zu notieren.“

      „Wieso sagst du, ich hätte ihn dir schmackhaft gemacht? Gab es Schwierigkeiten? Hat es was damit zu tun, dass du unrasiert bist?“

      Gleich war es wieder so weit, dachte er, dass sie ihm seinen Ausrutscher mit Marlies vorhielt und nicht einfach zürnte, sondern gehässige Analysen anstellte und sein Fehlverhalten in einen Mega-Gesamtzusammenhang brachte und unsachlich wurde. Hast du die Kleine hypnotisiert? Andere Männer in deinem Alter benötigen dafür nur angegraute Schläfen, hatte sie einmal gesagt und dabei hämisch seine Ohren anvisiert, um die herum es immer noch rot wucherte.

      „Steckt wieder die kleine Schlampe dahinter?“

      Na bitte. Er wollte nur noch das Thema wechseln. „Hast du nun die Nummer?“

      „Nein.“

      „Und ich hatte noch keine Zeit, mich um einen Anwalt zu kümmern“, sagte er.

      „Meiner reicht für uns beide. Oder kennst du dich mit Paragraphen aus?“

      Sie war aufgerüstet bis zu den Haaren, trug das Werk irgendeines Modefriseurs, was Jens an die sechziger Jahre erinnerte – toupiert zu einer Fülle, derentwegen er Frauen beneidete.

      „Eine halbe Stunde, mehr habe ich nicht für deinen Anwalt.“ Sie fuhren zu Rechtsanwalt Leibel, dessen Kanzlei sich auf der Sorge befand, einer alten Geschäftsstraße. Das Wartezimmer war ein Schmuckstück und ein Vorgeschmack auf das, was der Aderlass sich Scheidender einbrachte. Mitten im Raum stand eine Säulenvitrine aus Glanzglas, Herberge verschiedener Bronzeskulpturen. Vier Ledersessel mit Nackenrollen machte das Betrachten vermutlich zum